Pseudoisidor und die Opposition gegen Ludwig den Frommen
Noch vor weniger als zehn Jahren hätte der Titel bzw. der
Untertitel dieses Vortrags – Pseudoisidor und die Opposition gegen Ludwig den
Frommen – bestenfalls Kopfschütteln hervorgerufen. Ludwig der Fromme ist
bekanntlich am 20. Juni 840 in Ingelheim gestorben. Pseudoisidor dagegen hat
seine Fälschungen – so die bis vor wenigen Jahren nahezu einhellige Meinung der
Forschung – seine Fälschungen zwischen 847 und 852 erstellt.
Diese scheinbare Gewissheit ist in den letzten Jahren
zumindest ins Wanken gekommen. In den Jahren 2000 bis 2002 hat Klaus
Zechiel-Eckes nachgewiesen, dass mindestens drei Arbeitshandschriften
Pseudoisidors sich in den 30er und 40er Jahren des 9. Jahrhunderts im Kloster
Corbie befunden haben. Schon länger war bekannt, dass wichtige Handschriften
der Fälschungen in eben diesem Kloster entstanden sind. Ja, eine der
Handschriften, in der man den Fälschern geradezu bei der Arbeit zusehen kann,
stammt aus – Corbie: Berlin DSB Hamilton 132.
Bei den Arbeitshandschriften handelt es sich im einzelnen
um die Handschriften
·
einen Codex der lateinischen Übersetzungen der Akten des Konzils von
Chalkedon. Diese Handschrift war unter anderem Vorlage für die „Nonnullae
sanctiones sparsim collectae sancti et magni Calcidonensis concilii“, die
Zechiel-Eckes als Produkt der Fälscherwerkstatt nachgewiesen hat,
·
um einen Überlieferungsträger der pseudo-alkuinischen Abhandlung De
dignitate humanae conditionis und um
·
eine Handschrift, die Cassiodors
Historia tripartita überliefert.
In allen drei Handschriften sind bestimmte Textpartien,
die Pseudoisidor für seine Falsifikate herangezogen hat, in charakteristischer
Weise markiert. Zugleich bieten die drei Codices teilweise singuläre Lesarten,
die in der gleichen Weise in den Fälschungen wiederkehren.
Die Berliner Hamilton-Handschrift ist ursprünglich eine
Kombination aus der Collectio Dionysio-Hadriana, einer wichtigsten
Kirchenrechtssammlungen aus der Zeit Karls d. Gr. und einer aus
Nordostfrankreich stammenden Sammlung mit Bestimmungen gallischer und
spanischer Konzilien. Diese Handschrift wurde – wie schon Friedrich Maassen
1888 festgestellt hat – zu einer in pseudoisidorischer Manier verfälschten
Version der westgotischen Kanonessammlung Hispana umgearbeitet, die den echten
Kern der Falschen Dekretalen Pseudoisidors lieferte. Zu diesem Zweck wurde in
der Hamilton-Handschrift im zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts kräftig ergänzt
und radiert, es wurden einzelne Blätter herausgeschnitten und andere
beigeheftet und zu einzelnen Konzilsbeschlüssen wurden Kanones hinzugefügt, die
mit dem jeweiligen Konzil in keinerlei Beziehung standen
Somit ist kaum ein Zweifel möglich, dass Corbie die
Heimat der Fälscherwerkstatt war. Damit ist freilich noch kein Anhaltspunkt für
die Datierung der Aktivitäten gewonnen.
847 bis 852 sollen die Fälschungen nach konventioneller
Auffassung entstanden sein. 847 als Beginn der Fälschungsaktivitäten stützt
sich allein darauf, dass Benedictus Levita in einer der Vorreden zu seiner
Kapitulariensammlung von dem 847 verstorbenen Erzbischof Otgar von Reims als
einem Prälaten spricht "quem tunc
Mogontia summum Pontificem tenuit“,
der also zum Zeitpunkt der Abfassung der Vorrede verstorben war. Jeder, der
jemals ein Vorwort geschrieben hat, weiß dass Vorwörter in aller Regel verfasst
werden, wenn das eigentliche Buch mehr oder weniger fertig ist. Auch Benedictus
hat es wohl nicht anders gehalten. In der erwähnten Vorrede weiß er nämlich
bereits, dass die Falschen Kapitularien drei Bücher umfassen.
Emil Seckel hat die letzten Jahrzehnte seines Lebens u.a.
damit verbracht, die verwickelte Fälschungstechnik Benedikts mit äußerster
Akribie zu beschreiben. Exzerptreihen aus allen möglichen Werken wurden demnach
angefertigt. Diese Reihen wurden mit gelegentlich artistisch anmutender
Geschicklichkeit ineinander verwoben, Verfälschungen wurden in die Texte
eingebaut, Fälschungsmosaike fabriziert, die zu analysieren breite
Quellenkenntnis und textkritisches Geschick erfordert. Seit den Studien Seckels
hat sich herausgestellt, dass die Fälschungstechnik wohl eher noch komplexer
gewesen ist, als selbst Seckel angenommen hat. Allein die Materialsammlung für
die Fälschungen muss geraume Zeit in Anspruch genommen haben, von der
erforderlichen handschriftlichen Erstellung der Exzerptreihen, Stamm- und
Zwischenfälschungen bis hin zum Endprodukt ganz zu schweigen.
Daneben haben die Fälscher - ein ganzes Team muss am Werk
gewesen sein - gewissermaßen nebenbei eine komplette Sammlung der historischen
Ordnung überarbeitet, wobei dies schon für sich genommen kein geringes Unterfangen
ist. Wer das Ausgangsprodukt, die gallische Form der Hispana, in der
vollständigsten überliefernden Handschrift immerhin 311 Folien, also mehr als
600 Seiten, kennt, weiß dass neben der Bearbeitung und Verfälschung auch dieser
Sammlung es zunächst einmal nötig war, aus den nicht selten sinnlosen Texten
dieser Form der Hispana Gallica einen verständlichen Text zu erstellen. Auch
hier wird man keinen zu geringen Zeitraum ansetzen dürfen.
Schließlich zu den Falschen Dekretalen selbst: Es gilt
heute als ausgemacht, dass wenigstens vier verschiedene Formen dieser
umfangreichsten Kanonessammlung, die das Mittelalter bis zum Dekret Gratians
hervorgebracht hat, auf die Fälscherwerkstatt selbst zurückgehen. Einzelne
gefälschte Briefe sind hochkomplexe Texte, die voller Anspielungen und Zitaten
aus einer Vielzahl von Quellen stecken, andere sind schlichte
Zusammenstellungen von wenigen wörtlich ausgeschriebenen Quellen. Auch dieses
Werk erforderte jahrelange Arbeit. Nimmt man alles zusammen (und bedenkt vor
allem, dass alle diese Arbeiten mit der Gänsefeder aufs Pergament zu bannen
waren), so sind etwa 15 Jahre sicher kein zu langer Zeitraum.
Auch Klaus Zechiel-Eckes kam aufgrund im wesentlichen
innerer Gründe auf etwa die dreißiger Jahre des 9. Jahrhunderts als Beginn der
Fälschungstätigkeit. Damit kehren wir zu der Datierung zurück, die schon David
Blondel 1628 und ihm folgend die Gebrüder Ballerini angenommen hatten. Dieser
Zeitpunkt ist im Übrigen auch weit plausibler als der Beginn der Fälschungen
Mitte bis Ende der vierziger Jahre des 9. Jahrhunderts, wo sich kein im Ernst
plausibler Anlass für eine derart massive Fälschungstätigkeit ausmachen lässt.
Der „starre Widerstand“
des Adels „auch gegen vollauf berechtigte Forderungen der … Synode von Meaux“
im Jahre 845/6 jedenfalls , den Emil Seckel als Anlass der Fälschungen annimmt,
erscheint als Anlass der Fälschung nicht gerade sonderlich überzeugend.
Eine weit schwerere Katastrophe hatte die Führung des
westfränkischen Klerus in der Folge der Wiedereinsetzung Ludwigs im Februar 835
im Zusammenhang mit der Reichsversammlung von Diedenhofen getroffen, als mit
Agobard von Lyon, Ebo von Reims, Bartholomäus von Narbonne, Barnard von Vienne,
Jesse von Amiens (übrigens dem für Corbie zuständigen Ortsbischof) u. a. die führenden
Vertreter der Reformer im westfränkischen Klerus und Verfechter der
Reichseinheit durch Absetzung oder Flucht ihre Ämter verloren. Selbst Anhänger
des in Diedenhofen siegreichen Ludwig befanden, man habe dem Frankenreich hier
gleichsam die Sehnen (nervis succisis)
durchtrennt, so die Bewertung des Biographen Ludwigs des Frommen.
Geradezu auf die Versammlung von Diedenhofen
zugeschnitten sind die prozessualen Vorschriften, die Pseudoisidor so sehr am
Herzen lagen: Agobard war in Abwesenheit verurteilt worden, Ebo von Reims
ebenso wie Hildemann von Beauvais wurden aus Klosterhaft der Versammlung von
Diedenhofen vorgeführt, Ebos Geständnis kam unter Druck zustande, Diedenhofen
lag eben nicht in der Kirchenprovinz Reims sondern in der peregrinen Kirchenprovinz
Trier, sie wurden nicht von ihren Konprovinzialen gerichtet, ganz zu schweigen
davon, dass selbstverständlich die Versammlung von Diedenhofen nicht vom Papst
einberufen war und anderes mehr. Die Grundsätze des pseudoisidorischen
Prozessrechtes lassen sich am einfachsten erklären, wenn man sie als
Kontrastfolie zum Verfahren von Diedenhofen versteht.
Wer nun steckt hinter diesen Fälschungen? Klaus
Zechiel-Eckes hat einige, wie ich finde, recht überzeugende Hinweise auf den
späteren Abt von Corbie, Paschasius Radbertus zusammengetragen. Unter anderem
ist Radbertus ohnehin als (literarischer) Fälscher bekannt, Radbertus und
Pseudoisidor haben sehr selten benutzte Quellen, wie den Liber contra Varimadum des Ps.- Vigilius Thapsensis gemeinsam. Es
scheint mir durchaus plausibel, dass wir Radbertus als einen der
Hauptverdächtigen ansehen.
Zu den erwähnten Indizien kommt hinzu, dass gerade das
Buch der Bibel, zu dem Radbertus seinen monumentalen Matthäus-Kommentar
verfasst hat, die bei weitem meistbenutzte Bibelquelle Pseudoisidors ist. An
zweiter Stelle folgen die Psalmen und auch zu einemn Psalm nämlich dem 47. hat
sich der Corbier Mönch als Kommentator betätigt. Schließlich finden sich in
einer erst vor kurzem als Werk Pseudoisidors nachgewiesenen Kanonessammlung, in
der Collectio Danieliana, merkwürdige Interpolationen zugunsten der Diakone in
bestimmten pseudoisidorischen Texten. Radbertus war Diakon.
Mit der vermuteten Autorschaft des Radbertus ist
allerdings die bekannte metropolitenfeindliche
Tendenz Pseudoisidors nicht zu erklären. Ihre Rechte schränkt
Pseudoisidor erheblich zugunsten der Rechte der Suffraganbischöfe ein. Mit den
Vorgängen in Diedenhofen, die wir eben als den eigentlichen Anlass der
Fälschungen indentifiziert zu haben glauben, ist dies nicht zu erklären. Die
Hauptleidtragenden dort waren ja gerade Erzbischöfe wie Ebo v. Reims und
Agobard v. Lyon. Wir werden also auch noch nach wenigstens einem
Suffraganbischof im Fälscherkreis Ausschau halten müssen.
Dieser Suffraganbischof muss während
der Zeit in der die Fälscher am Werk waren, also wenigstens von Mitte der
dreißiger bis Anfang der fünfziger Jahre des 9. Jahrhunderts amtiert haben.
Rothad wurde 832 Bischof von Soissons und amtierte bis 869; seine
Auseinandersetzung mit Hinkmar von Reims mit zeitweiliger Absetzung und
anschließender Restitution durch Nikolaus I. fällt in die Jahre 861-865. Rothad
galt schon seit langem als einer der wichtigsten Verdächtigen hinsichtlich der
Fälschung. Den überzeugendsten Hinweis auf Rothad hat schon 1890 Thaner aus
Nißls Nachlass mitgeteilt: aus der Inskription zur Praefatio des Isidorus
Mercator (Isidorus Mercator servus Christi lectori conservo suo et parens in
domino fidaei salutem) lässt sich nämlich folgendes Anagramm bilden: Rottadus
vero civitatis Suessionensis rector Incmaro Remensi foedo archipresuli dolum.
Es gibt noch weitere Hinweise auf die Beteiligung Rothads von Soissons, die
allerdings ein ziemlich tiefes Einsteigen in die Überlieferungsgeschichte der
frühen Handschriften der Falschen Dekretalen erfordern und für die hier nicht
der Ort ist. Nur noch ein weiterer Hinweis: Rothad ist auch der erste, der die
pseudoisidorischen Dekretalen in seiner Auseinandersetzung mit Erzbischof
Hinkmar von Reims in genau der von Pseudoisidor intendierten Weise nutzt.
Kehren wir zurück zu den Ereignissen von Diedenhofen. Die
Beschlüsse dieser Versammlung waren also null und nichtig, nimmt die
Bestimmungen von Pseudoisidors Märtyrerpäpsten ernst. Die Abrechnung Ludwigs
des Frommen mit seinen Gegnern hatte, so ergab sich nicht nur aus den Dekreten
der Märtyrerpäpste von Clemens I. und seinem Nachfolger Anacletus bis hin zu
den Verfahrensweisen und Entscheidungen der Päpste Iulius I. und Damasus I.,
sondern auch aus angeblich soeben neu aufgefundenen Kanones des Konzils von
Nikäa, als der ehrwürdigsten Kirchenversammlung überhaupt, das Recht in
unerträglicher Weise mit Füßen getreten.
Dieser Kaiser Ludwig verfolgte mithin die Bischöfe und
Priester. Gehörte er nicht in eine Reihe mit den heidnischen Christenverfolgern?
Die Kirche besteht schließlich aus ihren Priestern, wie schon die Kaiser
Theodosius II. und Valentinianus III. festgestellt hatten, in einem Gesetz
übrigens, das zum ersten Mal der gelehrte Jesuit Jacques Sirmond aus einem
mittlerweile verlorenen Codex Corbeiensis herausgegeben hat. Selbstverständlich
wurde ein derart brauchbarer Satz sowohl in die Falschen Dekretalen als auch
übrigens in die Falschen Kapitularien des Benedictus Levita mit aufgenommen:
Papst Pius I. schreibt an die italischen Bischöfe ecclesia dei in sacerdotibus consistit. Wer die Bischöfe und
Priester verfolgt, ist folglich ein Verfolger der Kirche Gottes.
Es ist an der Zeit, dass wir uns mit einem der
merkwürdigsten Briefe unter den gefälschten Dekretalen befassen. Nur einen
einzigen Brief haben Pseudoisidors angebliche Päpste an einen weltlichen
Herrscher gerichtet, nämlich den zweiten Marcellus-Brief an den Caesar Maxentius.
Bei Pseudoisidor ist dieser Maxentius ein übler Christenverfolger. Er versucht die
Christen durch Drohungen und Verlockungen zum Abfall vom Glauben zu bringen, er
bedroht sogar ihr Leben.
Ausgerechnet diesem Christenverfolger erläutert Marcellus
sodann, dass er zwar einige Bischöfe versammeln, aber keinesfalls ein Konzil
einberufen könne, denn dazu sei die Genehmigung des römischen Stuhls
erforderlich. Weiterhin gibt er ihm Hinweise auf das kirchliche Strafverfahren,
wie auf die exceptio spolii, das
Erfordernis der persönlichen Anwesenheit des Anklägers beim Strafverfahren und
anderes mehr.
Eine seltsame, fast skurrile Dekretale, so scheint es.
Einen Christenverfolger Bischöfe versammeln zu lassen, ist schon für sich
genommen eine seltsame Vorstellung, diesem dann auch noch Tipps zum kirchlichen
Strafprozessrecht zu geben, ist kaum anders als absurd zu bezeichnen. Hinzu
kommt noch, dass Papst Marcellus seinem Korrespondenten, dem heidnischen
Kaiser, schließlich noch Hinweise gibt, wie sich denn ein guter Herrscher zu
verhalten habe, nämlich betrübte und gespaltene (contritas et scissas) Kirchen wiederherzustellen, neue zu bauen und
die Priester Gottes zu ehren und zu schützen.
Die Absurdität lässt sich freilich auflösen wenn man an
die Stelle von Maxentius Ludowicus setzt. Wenn wir in unseren Überlegungen
etwas zurückgehen, zu Radbertus, dessen literarischer Produktivität wir ja
nicht den monumentalen Matthäus-Kommentar, sondern auch die Lebensbeschreibung
seines Abts und Lehrers Wala, das Epitaphium Arsenii verdanken, sehen wir, dass
ihm das Stilmittel der Verschlüsselung von Namen alles andere als fremd war.
Haben wir es vielleicht gar nicht mit einem fiktiven
Brief des Papstes Marcellus an den Kaiser Maxentius zu tun, sondern mit einem
Brief, den ein Pseudoisidor zeitgenössischer Papst hätte an Ludwig den Frommen
hätte schreiben sollen oder schreiben müssen? Wenn wir diese Frage bejahen, ist
der Brief plötzlich sinnvoll. Aus Pseudoisidors Sicht hätte Ludwig die
Versammlung von Diedenhofen ja eben gar nicht erst nicht einberufen dürfen,
jedenfalls nicht als Konzil. Ihm zu sagen was nach kirchlichem
Strafprozessrecht zulässig sei und was nicht, wäre in der Tat sinnvoll in den
Augen Pseudoisidors.
Bleiben wir bei dieser Hypothese, werden auch einige
andere Aussagen des Briefes zeitgenössisch interessant. Jedenfalls als er
diesen Brief verfasste, hatte Pseudoisidor noch lange nicht jede Hoffnung auf
einen neuerlichen politischen Umschwung im Frankenreich aufgegeben: „Du aber,“
so schreibt Marcellus an Maxentius oder vielleicht an Ludwig den Frommen?
„ergötze dich nicht an unseren Niederlagen, weil der Herr ja nach dem Unwetter
für Ruhe sorgt und nach den Tränen und dem Weinen Jubel herbeiführt. Der
gesegnete Gott unserer Väter, der in seinem Zorn barmherzig ist, und in der
Zeit der Bedrängung Sünden vergibt, ist ein großer Herr in Ewigkeit und er wird uns für alle
Zeit regieren, weil sein Reich in alle Ewigkeit bleibt. Amen.“ Man ist versucht
hinzuzufügen: „Und deins?“ Und anderer Stelle heißt es im gleichen Brief heißt
es: „Wenn ihr uns weiter verfolgt anstatt Gott zu besänftigen, so werden wir
eure Verfolgung eher ertragen als das wir die kirchliche Regel
durcheinanderbringen eingedenk der Ermahnung der Stimme der Wahrheit selbst:
Fürchtet nicht die die den Leib töten, die Seele aber können sie nicht töten. …
Was nutzt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, aber Schaden nähme
an seiner Seele.“
Nicht „frommer Wortschwall“ , „toter Stoff“, „sinnloses
Häufen von Bibelstellen“, wie Emil Seckel meinte, wäre dies, sondern eine klare
politische Botschaft, wenn wir unterstellen, dass es im Brief des Marcellus
nicht um den lange begrabenen Maxentius, sondern um den leibhaftig auf den
Thron des großen Karl sitzenden Ludwig geht. Ich muss gestehen, dass mir
jedenfalls eine solche Deutung des zweiten Marcellus-Briefs weit mehr
einleuchtet, als anzunehmen, Pseudoisidor hätte sich hier vergaloppiert.
„Pseudoisidor dient einer Partei“ stellt Seckel fest. Wir müssen hinzufügen und
zwar noch mehr als Seckel annahm.
Versuchen wir die gleiche Methode auf einen anderen
Brief, nämlich auf den des Papstes Lucius an die gallischen und spanischen
Bischöfe anzuwenden. Pseudoisidor lässt seinen Papst das Buch Sirach zitieren „Die Throne der Stolzen
stürzt der Herr um und setzt Sanftmütige an ihre Stelle“. Man kann auch dies
als frommen Wortschwall verstehen, zumal es eine lange Passage aus dem Buch
Sirach einleitet – oder aber doch als politische, auf die Zeitereignisse
gemünzte Aussage, zumal unmittelbar vorhergeht die Aussage auch aus dem
gleichen Buch der Bibel „Es entehrt der Herr die Versammlung (conventus) der Bösen und zerstört sie
von Grund auf“ – welchen conventus?
Womöglich den von Diedenhofen?
Ein letzter frommer Wortschwall, diesmal aus dem Brief
des Papstes Viktor an die afrikanischen Bischöfe: „Brüder, ihr müsst einmütig
sein und euch gegenseitig helfen … Wenn ihr euch einig seid, werdet ihr eure
Widersacher überwendet, wenn ihr euch aber uneins seid, werdet ihr
unterliegen.“ Frommer Wortschwall oder doch vielleicht eher eine Anspielung auf
aktuelle Ereignisse? Immerhin war der westfränkische Episkopat ja in Anhänger
und Gegner Ludwigs gespalten.
Wir können hier die Diskussion nicht Brief für Brief
fortsetzen, doch immerhin zeigen schon diese wenigen Stellen, dass es wohl
lohnen würde, die Falschen Dekretalen und vielleicht auch andere
pseudoisidorische Fälschungen einmal gleichsam gegen den Strich zu lesen, nicht
so sehr als kirchliche Rechtssammlung, sondern als Kommentar der schließlich unterlegenen
Seite in der Auseinandersetzung um die karolingische Reichseinheit im 9.
Jahrhundert.
Wie nun stellt sich Pseudoisidor die Kirchenverfassung
vor? Es ist deutlich und fehlt in kaum einer Darstellung, dass eine zentrale
Rolle die Bischöfe spielen. Sie sind gottgleich, ihnen ist unbedingter Gehorsam
zu leisten, vom Klerus ohnehin, aber auch von Laien jeglichen Standes. Wer sich
an den Bischöfen vergeht, greift den Augapfel Gottes an. Eigentlich hat er sein
Leben verwirkt, und nur das Prophetenwort Ezechiels rettet ihn: „Ich will nicht
den Tod des Sünders.“
Über den Bischof steht aber der Papst. Der Papst, so kann
man in den meisten Darstellungen lesen verdankt seine Stellung im wesentlichen
seiner Schutzfunktion als Appellationsinstanz für die Bischöfe, als deren
letzte Zuflucht in all ihren Nöten. Ja, so schrieb es schon vor fast 150 Jahren
Hermann Josef Wasserschleben Pseudoisidor schenkt dem Papst nichts, ohne auch
die Bischöfe zu bedenken. Diese Auffassung hat sich weitgehend durchgesetzt und
der Schutz der Bischöfe ist ohne Zweifel eine wichtige Funktion des Papsttums
bei Pseudoisidor. Dennoch ist es nicht
seine einzige Funktion, und vielleicht hat Wasserschleben auch ein wenig
übertrieben.
Mindestens ebenso wichtig ist die Funktion der Päpste als
Hüter des rechten Glaubens. In feierlicher Sprache macht Pseudoisidor deutlich,
dass diese Funktion des Papsttums von zentraler Bedeutung für die Kirche sei.
„Diese heilige und apostolische Mutter aller Kirchen wird niemals vom Pfade der
apostolischen Tradition abweichen“, so tönt der schon erwähnte Lucius-Brief, um
das Lukas-Evangelium zu zitieren: confirma
fratres tuos. Hier verfälscht Pseudoisidor schließlich gar in subtiler
Weise die Bibel, um keinen Zweifel an der immerwährenden Glaubensfestigkeit des
heiligen Petrus aufkommen zu lassen. Während die Lukas-Stelle im Zusammenhang
der Ankündigung steht, dass Petrus Christus verleugnen werde, ist dieser
Zusammenhang bei Pseudoisidor weggelassen und das Zitat ist verkürzt aus tu aliquando conversus comfirma fratres tuos
zu tu aliquando confirma fratres
tuos. Die erforderliche Bekehrung
des hl. Petrus ist also weggelassen. Nur am Rande sei bemerkt, dass hier die
Notwendigkeit einer neuen Ausgabe des Pseudoisidor deutlich wird. Während alle
alten Pseudoisidor- Handschriften conversus
weglassen, ist es in der Hinschius-Ausgabe nach der entsprechenden wohl nach
der Bibel ergänzten Version jüngerer Handschriften vorhanden. Dass hier eine
Verfälschung Pseudoisidors und nicht etwa eine entsprechende Bibelüberlieferung
aus Corbie vorliegt, zeigt sich daran, dass Radbertus in seinem
Matthäus-Kommentar die entsprechende Lukas-Stelle mehrfach zitiert und zwar stets
mit conversus.
Mit dem Schutz der Bischöfe hat diese Interpolation
immerhin eines Herrenzitats offensichtlich nichts zu tun.
Der rechte Glauben liegt Pseudoisidors Päpsten besonders
am Herzen. In immerhin 12 Briefen finden sich lange Passagen, die von der
Trinitätslehre im weitesten Sinne handeln. Manche dieser Briefe sind gar
ausschließlich dem rechten Glauben gewidmet. Nirgends geht Pseudoisidor dabei
auf die zu seiner Zeit aktuelle theologische Diskussion ein. Von der
Prädestinationslehre, wie sie etwa in den Auseinandersetzungen um Gottschalks
Thesen eine Rolle spielten, ist keine Spur zu entdecken. Wie lässt sich diese
auf den ersten Blick merkwürdige Enthaltsamkeit erklären?
Am ehesten vielleicht damit, dass es Pseudoisidor um die
Irrtumslosigkeit der römischen Kirche ging. Die ließ sich am ehesten dartun,
wenn er sich mit Fragen beschäftigte, in denen kein Zweifel an der
Rechtgläubigkeit der eingenommenen Positionen aufkommen konnte. Dafür schienen
ihm die Positionen der vier alten ökumenischen Konzilien, also die Christologie
am besten geeignet. Auch hier ist keine Spur von einem Bezug auf den Schutz der
Bischöfe zu erkennen.
Es gibt sogar eine Passage bei Pseudoisidor, in der
eindeutig ein Weisungsrecht des Papstes an die Bischöfe formuliert ist. Der
Papst kann nämlich Bischöfe auch auf eigenem Antrieb nach Rom zitieren, und ist
nicht auf die Appellation eines Bischofs dafür angewiesen, wie wir im Brief
Sixtus’ I. an alle Bischöfe lesen können.
Die monarchische Stellung des Papstes ist also bei Pseudoisidor
durchaus ausgeprägt und zwar keineswegs nur als Schutzrecht zugunsten der
Bischöfe.
Die nächste Stufe der Hierarchie, die Patriarchen oder
Primaten, hat Pseudoisidor zwar weitgehend selbst ausgestaltet, sie dann aber
merkwürdig blass gelassen in ihrer Ausprägung. Der Primas ist zunächst einmal
einfach der Metropolit einer prima sedes,
also der Erzbischof einer Kirchenprovinz, die in einer Serie von
Kirchenprovinzen gleichen Namens die erste dieser Kirchenprovinzen ist, also Belgica prima, Lugdunensis prima usw.
Sie haben eine nicht sonderlich klar definierte Stellung im Bischofsprozess,
insofern als ihnen post sedes apostolica (im logischen, nicht im temporären
Sinne) unter Umständen ein Entscheidungsrecht zukommt. Sie bedürfen dazu
allerdings der Genehmigung des apostolischen Stuhls. Dies, und dass ihnen die
Erzbischöfe grundsätzlich zu gehorchen haben, ist schon so ziemlich alles, was wir über die Primaten
und ihre Rechte bei Pseudoisidor erfahren. Fast hat es den Anschein, das
Pseudoisidor selbst nicht so recht wusste, was er mit dieser neu geschaffenen
Hierarchiestufe anfangen sollte. Oder war es vielleicht eine Stufe der
Hierarchie, die er zwar zu einem frühen Zeitpunkt der Fälschung, die nach
unserer Auffassung sich ja über einen recht langen Zeitraum erstreckte,
einzuführen gedachte, dann aber wieder fallen ließ? Wir wissen es nicht.
Auffällig ist jedenfalls, dass keineswegs an allem, sondern nur an relativ
wenigen Stellen, in denen Pseudoisidor über das Prozessrecht handelt, überhaupt
von diesen patriarchae vel primates
die Rede ist.
Wenig Sympathie erfährt die Stufe der Erzbischöfe oder
Metropoliten. Sie sind Pseudoisidor grundsätzlich verdächtig. An Rechten
verbleibt ihnen nicht viel mehr, als das Recht (und die Pflicht) einmal im Jahr
eine Synode ihrer Kirchenprovinz zu versammeln, wobei sie jedoch im Einzelfall
stets das Einverständnis des Papstes benötigen, ein unter den Bedingungen des
9. Jahrhunderts kaum praktisch durchführbares Erfordernis. Wollen sie
Angelegenheiten regeln, die Auswirkungen über ihre eigene Bischofsdiözese
hinaus haben, sind sie stets an die Zustimmung ihrer Komprovinzialen gebunden.
Pseudoisidor rechnet offenbar damit, dass sich die Metropoliten an diese
Einschränkungen nicht halten werden, den an einer ganzen Reihe von Stellen,
droht er ihnen für diesen Fall die Absetzung an, die durch den Papst,
hilfsweise auch durch den Primas erfolgen soll.
Der Diözesanbischof schließlich ist, wie die Fälscher es
selbst ausdrücken, die Säule der Kirche. Seine Gewalt über seine Diözese ist
absolut und praktisch unumschränkt. Der Klerus hat ihm bedingungslos zu
gehorchen und umso mehr natürlich auch die einfachen Gläubigen, gleich welchen
Standes.
Die Kirche Pseudoisidors ist also weitgehend episkopal
verfasst, wobei allerdings dem Papst ein Direktionsrecht in Fragen des
Glaubens, aber auch in anderen Bereichen, etwa des Gerichtswesens zukommt. Es
ist schwerlich anzunehmen, dass einem doch grundgelehrten und durchaus auch
politisch erfahrenen Mann wie Pseudoisidor die Folgen einer solchen
Kirchenkonstruktion, nämlich einer monarchischen Spitze, mit einem
Entscheidungsrecht in Grundsatzfragen, gegenüber einer weitgehend amorphen
Masse von Bischöfen nicht hätten klar
sein sollen. Die monarchischen Spitze wird sich auf die Dauer durchsetzen.
Vielleicht waren Primaten ursprünglich auch als eine Art Milderung dieses
Kontrasts gedacht, der schließlich aber doch nicht voll ausgeführt wurde.
Das wirkliche Gegengewicht zu der monarchischen Spitze
bildet ein Begriff, dem eine vermutlich sehr grundlegende Bedeutung in der
Ekklesiologie Pseudoisidors zukommt. nämlich die caritas, deren häufiger Lobpreis in den Falschen Dekretalen sicher
auch mehr ist als der fromme Wortschwall, unter den ihn wohl Seckel subsumiert
hätte.
Es lohnt vielleicht schließlich noch auf eine aktuelle
Diskussion einzugehen, die in die Frage der Kirchenverfassung, auf die
Zusammenhänge innerhalb der der Opposition innerhalb des fränkischen Klerus,
und auch auf Pseudoisidors Stellung innerhalb dieser Opposition eine wichtige
Rolle spielt. Ich meine Johannes Frieds vor einem Jahr erschienenes Buch zum
Constitutum Constantini.
Einige der zentralen Thesen Frieds sind kurz
zusammengefasst etwa folgende etwa folgende:
1. Das Constitutum Constantini ist in
Kreisen der westfränkischen Opposition etwa in der 30er Jahren des 9.
Jahrhunderts und zwar durchaus entstanden. Eine Verbindung dieser Kreise zu den
pseudoisidorischen Fälschern ist nicht auszuschließen und liegt sogar nahe.
2. Die angebliche Kaiserurkunde spricht
dem Papst keineswegs eine Oberherrschaft über den westlichen Reichsteil,
sondern nur über die Stadt Rom zu.
3. Im Wege einer Überspitzung der
Verfügungen des Constitutum Constantini durch im „kulturellen Gedächtnis“ des
Mittelalters, womit eine vage Kenntnis der Gebildeten gemeint ist, die sich
nicht auf einen genauen Umgang mit dem Text der Urkunde stützte, wurde aus dem
Constitutum Constantini schließlich eine Konstantinische Schenkung des ganzen
Abendlandes.
Mich überzeugt keine der genannten Thesen vollständig. Am
ehesten scheint mir noch die Datierung Frieds diskutabel. Für einen wirklichen
Nachweis wäre m.E. allerdings eine sehr detaillierte Quellenanalyse des
Constitutum erforderlich, die nicht geleistet wird und die nach Lage der Dinge
vielleicht auch gar nicht zu leisten ist. Ausschließen kann man meines
Erachtens einen Zusammenhang mit Pseudoisidor. Konstantins Urkunde kennt fünf
alte Patriarchate, nämlich – in dieser Reihenfolge - Rom, Antiochia,
Alexandria, Jerusalem und Konstantinopel. Pseudoisidor kennt nur drei, nämlich die
drei petrinischen Stühle Rom, Alexandria und Antiochia in dieser „korrekten“
Reihenfolge. Vielleicht noch bedeutsamer ist, dass im Constitutum Constantini
der Primat dem römischen Bischof vom Kaiser verliehen wird, während
Pseudoisidor nicht müde wird, dass Rom seinen Vorrang Christus selbst verdankt.
Manchmal heißt es sogar der Vorrang sei non
ab alio quam ab ipso domino verliehen. Ist hier vielleicht gar eine
Zurückweisung des Constitutum Constantini impliziert. Das Constitutum
Constantini ist keineswegs in allen auf die Werkstatt zurückgehenden Versionen
enthalten. Die Haltung Pseudoisidors ist vielmehr merkwürdig schwankenden. Zwei
dieser Versionen enthalten das Constitutum vollständig, eine lässt es ganz weg,
und eine zitiert nur den narrative Teil des Constitutum ohne die Dispositio,
also auch ohne die Primatspassage.
Die Beschränkung der Schenkung Konstantins auf die Stadt
Rom verkennt, dass der Lateranpalast Rom und der Westen dem Papst Silvester
verliehen wird und dass diese Verleihungen mit gleichordnenden Konjunktion wie atque und tam … quam nebeneinander gestellt wird. Daran ändern auch die
jedenfalls für das 9. Jahrhundert vielleicht überscharfsinnigen Distinktionen
zwischen dicio und potestas nichts,
zumal alles iure Romanae ecclesiae
übergeben wird.
Für das kulturelle Gedächtnis werden pseudoisidorbelesene
Autoren wie Gerhoh von Reichersberg in Anspruch genommen, dem man sicher wird
zutrauen können, dass ihnen bei ihren Quellenstudien für ihre Schriften zum
Investiturstreit auch das weit verbreitete Constitutum Constantini im Wortlaut
über den Weg gelaufen oder der Freisinger Bischof und Chronist Otto, in dessen
Bibliothek einige Jahrzehnte vor seiner Amtszeit umfangreiche kanonistische
Studien betrieben wurden, natürlich auch mit Hilfe von Pseudoisidor. Auch er
wird wohl das Constitutum unmittelbar gekannt haben.
Das Vertrauen in Frieds Argumentation wird schließlich
nicht dadurch gestärkt, dass er seinem Buch englische Übersetzungen des
Constitutum und der entsprechenden Zitate im Dekret Gratians beigibt, die er
aus im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts veröffentlichten englischen
Übersetzungen übernommen hat, ohne dies kenntlich zu machen.
(Ernest F. Henderson, Select Historical Documents of the Middle
Ages , (London: George Bell, 1910), pp. 319-329, wahrscheinlich
übernommen von http://www.fordham.edu/halsall/source/donatconst.html, [Druckfehler bei Halsall mit übernommen, z.B in
Ziff.1 “peace, charitv, rejoicing” oder “devaout heart”] und Lorenzo Valla, Discourse on the
Forgery of the Alleged Donation of Constantine In Latin and
English English translation by Christopher B. Coleman (New Haven: Yale
University Press, 1922). S. 10-19, vielleicht übernommen von http://history.hanover.edu/texts/vallapart1.html)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich
auf eine hoffentlich intensive Diskussion.