IV.6. Die 74-Titel-Sammlung
Die 74-Titel-Sammlung
oder die Diversorum
patrum sententie, wie der unbekannte Autor der Sammlung
sein Werk selbst nennt,
galt manchen Forschern als der "Kanal, durch den Pseudoisidor in das
Kirchenrecht des Mittelalters eingedrungen" sei,
oder als die "entscheidende Grundlage" des "spätere[n]
päpstliche[n] Kirchenrecht[s], das seine Krönung in
Gratian
fand, ...
wenigstens nach der formalen Seite hin".
Diese kräftigen Thesen haben in neuerer Zeit einer
differenzierteren Haltung
Platz gemacht. So bezeichnete J. T. Gilchrist die 74-Titel-Sammlung als
eine
der am weitesten verbreiteten des Zeitraums zwischen 1076 und 1141,
versäumt
jedoch nicht, auf die Bedeutung der Sammlung Anselms von Lucca und der
Panormia Ivos von Chartres hinzuweisen.
Zurückhaltend äußert sich auch H. Fuhrmann:
Es sei
nicht sicher, ob etwa
Gratian die Sammlung gekannt habe.
Die Ausgabe der
74-Titel-Sammlung von J.
T. Gilchrist ist
laut
Fuhrmann "die
erste
Ausgabe einer
kirchenrechtlichen Sammlung der Periode zwischen Pseudoisidor und dem
Pontifikat Gregors VII.,
die
das Attribut 'kritisch' in vollem Sinne verdient."
Dennoch ist die Frage nach den Quellen der 74-Titel-Sammlung erneut zu
prüfen. Gilchrist
selbst
beklagt seine Abhängigkeit bei
diesem Problem vom gedruckten Material,
hinsichtlich der CA also von der Ausgabe von P. Hinschius. Er neigt der
Ansicht
zu, dem Autor der 74-Titel-Sammlung habe eine Pseudoisidor-Handschrift
der
Klasse A1 und vielleicht eine Handschrift der Klasse A2 vorgelegen.
Gegen eine etwaige Benutzung von Klasse C führt er zwei
Lesarten
an, durch die
sich der Text von C vom Text der Sentenzen unterscheide. Beide sind in
c. 244
enthalten, das dem falschen Brief Stephans I.
an
Hilarius entnommen ist.
Diese Abweichungen von Klasse C finden sich zwar in der Ausgabe J.
Merlins (bei
Gilchrist nach
Migne, PL 130 zitiert),
nicht aber in allen Handschriften der Klasse C.
Andererseits bringt Gilchrist
selbst
Argumente bei, die für Klasse C als Vorlage der Sentenzen
sprechen
könnten.
Eine Untersuchung aller aus den Falschen Dekretalen stammenden Kapitel
der
74-Titel-Sammlung würde unseren Rahmen sprengen. Wir
beschränken uns daher auf
den CA-Text der Sentenzen. Der Text der CA-Reihe c. 290-305, c. 307
läßt nur einen negativen Schluß zu: Er
weicht von den
Klassen B und C
sowie von Klasse L
so ab, daß eine Handschrift dieser Klassen kaum als Vorlage
der
Sentenzen in
Frage kommt. Andererseits gibt es aber eine Übereinstimmung
mit
der CA-Klasse C
in den Sentenzen: Beide lassen den Anfang der CA-Rubrik der Klassen A,
K und L (Ex
Graecis et Latinis canonibus et synodis Romanis atque decretis
praesulum ac
principum Romanorum) aus. Die Rubrik der CA-Klasse B kommt
als
Vorlage der
Sentenzen nicht in Frage, da sie Angilram von Metz als Verfasser und
Papst
Hadrian I. als
Empfänger der
CA nennt. Der Gedanke, die ziemlich nichtssagende Quellenangabe der
CA-Rubrik
zu streichen, liegt jedoch nicht so fern, daß er dem
Sentenzen-Autor nicht auch
unabhängig vom Redaktor der Handschriftenklasse C gekommen
sein
könnte, zumal
er auch auf die in den Klassen A, K, L und C vorhandene Datierung der
CA (sub
die XIII
Kal. Oct. indictione
VIIII) verzichtet hat. Man
wird daher
am ehesten an eine
Handschrift der Klassen A oder K als Vorlage der Sentenzen denken.
Dabei
spricht es eher für Klasse K als Vorlage, daß sich
c. 29,
116 und 196 der
Sentenzen, die laut Gilchrist aus Pseudoisidor stammen, nicht in Klasse
A,
sondern nur in Klasse K und C finden.
Der Sentenzen-Autor
zitiert in
einer fast
geschlossenen Reihe in Titel 66 17 Kapitel aus den CA:
Sentenzen
|
CA
|
Sentenzen
|
CA
|
c.290
|
36
|
c.299
|
5bis
|
c.291
|
37a
|
c.300
|
6bis
|
c. 292
|
38
|
c.301
|
7bis
|
c.293
|
33
|
c.302
|
8bis
|
c.294
|
44a
|
c.303
|
9bis
|
c.295
|
44b
|
c. 304
|
10bis
|
c.296
|
45
|
c.305
|
4bis
|
c.297
|
50
|
c.307
|
20bis
|
c.298
|
1bis
|
|
|
A. Michel glaubte,
die CA-Reihe in den Sentenzen in einer
seiner Ansicht nach von
c. 276 bis c. 307 reichenden Textgruppe strafrechtlicher Bestimmungen
unterbringen zu können, in die nachträglich noch
prozeßrechtliche Texte
eingestreut worden seien.
Wenn unsere Vermutung richtig sein sollte, daß eine
Handschrift
der Klasse K
Vorlage der Sentenzen war, wäre diese strafrechtliche Gruppe
jedoch einfach
eine Blockübernahme aus den Falschen Dekretalen. Die
Sentenzen-Kapitel 276-289
stammen nämlich aus der römischen Synode von 721
unter Gregor II.
(JE
nach 2158). Der Text dieser Synode ist
in den Handschriften der Klasse K unmittelbar vor den CA
überliefert – genau
wie in der 74-Titel-Sammlung.
Es ist angesichts des
Charakters der
74-Titel-Sammlung, die "nahezu ausschließlich nur
Exzerptreihen"
liefert,
schwer,
eine überzeugende Systematik in dieser Sammlung zu finden.
Zwar
ist es sicher
kein Zufall, daß der erste Titel der Sammlung De
primatu
Romane ecclesie handelt,
und daß auch die folgenden Titel mit dem Primat des
römischen Bischofs in
Zusammenhang stehen. Gegen Ende der Sammlung macht aber die anfangs
wenigstens
assoziativ nachvollziehbare Systematik einem – jedenfalls mit
inhaltlichen
Kriterien – kaum entwirrbaren Gemenge von Texten
verschiedensten
Inhalts Platz.
Es fällt auf, daß die CA hier und nicht bei den vom
Prozeßrecht handelnden
Titeln 5-14 eingeordnet sind.
Bei
der Redaktion der CA-Texte geht der Autor der
74-Titel-Sammlung energischer vor, als alle anderen Autoren von
Kanonessammlungen, die wir für diese Untersuchung herangezogen
haben. Es ist
müßig, Überlegungen daran zu
knüpfen, ob das
Verfahren des Sentenzen-Autors als
Fälschung zu bezeichnen sei oder nicht.
Änderungen wie in c. 291 (= CA 37a), wo die Kanones, die
Papstdekrete und die
guten Sitten durch die decreta sacrosancta Romanorum presulum
ersetzt
werden,
greifen jedenfalls einschneidend in die Rechtsverhältnisse
ein,
die die Quelle
voraussetzt. Bezeichnend für die Tendenz der 74-Titel-Sammlung
ist
die
Interpolation in c. 307 (= CA 20bis).
Die CA bedrohen jeden König und jeden Mächtigen mit
dem
Anathem, der die censura
canonum verletzt oder ihre Verletzung erlaubt. Die
Vorschrift
richtet sich
also gegen Laien. Der Sentenzenautor ersetzt zunächst (wie in
c.
291) die
Kanones wieder durch die Dekrete der römischen
Bischöfe und
erweitert die
Strafandrohung auch auf Bischöfe. Die Tendenz der
pseudoisidorischen
Fälschungen wird damit fast in ihr Gegenteil verkehrt. Nach
dem
Willen ihrer
Autoren sollten die Fälschungen dazu dienen, die
Unabhängigkeit der einzelnen
Bischöfe zu stärken. In den Sentenzen werden sie zum
ersten
Mal dazu benutzt,
die Bischöfe eng an den Papst zu binden und damit ihre
Unabhängigkeit zu
untergraben.
©
2005 Karl-Georg
Schon
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Zuletzt
geändert am
6.7.2005
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