Projekt Pseudoisidor

Pseudoisidor

Capitula Angilramni

Collectio Danieliana

Pseudoisidor Teil I

Pseudoisidor Teil II

Pseudoisidor Teil III

Sammlung in 12 Teilen

 

Sammlung in vier Büchern

IV.6. Die 74-Titel-Sammlung

Die 74-Titel-Sammlung oder die Diversorum patrum sententie, wie der unbekannte Autor der Sammlung[1] sein Werk selbst nennt,[2] galt manchen Forschern als der "Kanal, durch den Pseudoisidor in das Kirchenrecht des Mittelalters eingedrungen" sei,[3] oder als die "entscheidende Grundlage" des "spätere[n] päpstliche[n] Kirchenrecht[s], das seine Krönung in Gratian fand, ... wenigstens nach der formalen Seite hin".[4] Diese kräftigen Thesen haben in neuerer Zeit einer differenzierteren Haltung Platz gemacht. So bezeichnete J. T. Gilchrist die 74-Titel-Sammlung als eine der am weitesten verbreiteten des Zeitraums zwischen 1076 und 1141, versäumt jedoch nicht, auf die Bedeutung der Sammlung Anselms von Lucca und der Panormia Ivos von Chartres hinzuweisen.[5] Zurückhaltend äußert sich auch H. Fuhrmann: Es sei nicht sicher, ob etwa Gratian die Sammlung gekannt habe.[6]

Die Ausgabe der 74-Titel-Sammlung von J. T. Gilchrist ist laut Fuhrmann "die erste Ausgabe einer kirchenrechtlichen Sammlung der Periode zwischen Pseudoisidor und dem Pontifikat Gregors VII., die das Attribut 'kritisch' in vollem Sinne verdient."[7] Dennoch ist die Frage nach den Quellen der 74-Titel-Sammlung erneut zu prüfen. Gilchrist selbst beklagt seine Abhängigkeit bei diesem Problem vom gedruckten Material[8], hinsichtlich der CA also von der Ausgabe von P. Hinschius. Er neigt der Ansicht zu, dem Autor der 74-Titel-Sammlung habe eine Pseudoisidor-Handschrift der Klasse A1 und vielleicht eine Handschrift der Klasse A2 vorgelegen.[9] Gegen eine etwaige Benutzung von Klasse C führt er zwei Lesarten an, durch die sich der Text von C vom Text der Sentenzen unterscheide. Beide sind in c. 244 enthalten, das dem falschen Brief Stephans I. an Hilarius entnommen ist.[10] Diese Abweichungen von Klasse C finden sich zwar in der Ausgabe J. Merlins (bei Gilchrist nach Migne, PL 130 zitiert),[11] nicht aber in allen Handschriften der Klasse C.[12] Andererseits bringt Gilchrist selbst Argumente bei, die für Klasse C als Vorlage der Sentenzen sprechen könnten.[13] Eine Untersuchung aller aus den Falschen Dekretalen stammenden Kapitel der 74-Titel-Sammlung würde unseren Rahmen sprengen. Wir beschränken uns daher auf den CA-Text der Sentenzen. Der Text der CA-Reihe c. 290-305, c. 307[14] läßt nur einen negativen Schluß zu: Er weicht von den Klassen B und C[15] sowie von Klasse L[16] so ab, daß eine Handschrift dieser Klassen kaum als Vorlage der Sentenzen in Frage kommt. Andererseits gibt es aber eine Übereinstimmung mit der CA-Klasse C in den Sentenzen: Beide lassen den Anfang der CA-Rubrik der Klassen A, K und L (Ex Graecis et Latinis canonibus et synodis Romanis atque decretis praesulum ac principum Romanorum) aus. Die Rubrik der CA-Klasse B kommt als Vorlage der Sentenzen nicht in Frage, da sie Angilram von Metz als Verfasser und Papst Hadrian I. als Empfänger der CA nennt. Der Gedanke, die ziemlich nichtssagende Quellenangabe der CA-Rubrik zu streichen, liegt jedoch nicht so fern, daß er dem Sentenzen-Autor nicht auch unabhängig vom Redaktor der Handschriftenklasse C gekommen sein könnte, zumal er auch auf die in den Klassen A, K, L und C vorhandene Datierung der CA (sub die XIII Kal. Oct. indictione VIIII) verzichtet hat. Man wird daher am ehesten an eine Handschrift der Klassen A oder K als Vorlage der Sentenzen denken. Dabei spricht es eher für Klasse K als Vorlage, daß sich c. 29, 116 und 196 der Sentenzen, die laut Gilchrist aus Pseudoisidor stammen, nicht in Klasse A, sondern nur in Klasse K und C finden.

Der Sentenzen-Autor zitiert in einer fast geschlossenen Reihe in Titel 66 17 Kapitel aus den CA:

 

Sentenzen

CA

Sentenzen

CA

c.290

36

c.299

5bis

c.291

37a

c.300

6bis

c. 292

38

c.301

7bis

c.293

33

c.302

8bis

c.294

44a

c.303

9bis

c.295

44b

c. 304

10bis

c.296

45

c.305

4bis

c.297

50

c.307

20bis

c.298

1bis

 

 

 

A. Michel glaubte, die CA-Reihe in den Sentenzen in einer seiner Ansicht nach von c. 276 bis c. 307 reichenden Textgruppe strafrechtlicher Bestimmungen unterbringen zu können, in die nachträglich noch prozeßrechtliche Texte eingestreut worden seien.[17] Wenn unsere Vermutung richtig sein sollte, daß eine Handschrift der Klasse K Vorlage der Sentenzen war, wäre diese strafrechtliche Gruppe jedoch einfach eine Blockübernahme aus den Falschen Dekretalen. Die Sentenzen-Kapitel 276-289 stammen nämlich aus der römischen Synode von 721 unter Gregor II. (JE nach 2158). Der Text dieser Synode ist in den Handschriften der Klasse K unmittelbar vor den CA überliefert – genau wie in der 74-Titel-Sammlung.

Es ist angesichts des Charakters der 74-Titel-Sammlung, die "nahezu ausschließlich nur Exzerptreihen" liefert,[18] schwer, eine überzeugende Systematik in dieser Sammlung zu finden. Zwar ist es sicher kein Zufall, daß der erste Titel der Sammlung De primatu Romane ecclesie handelt,[19] und daß auch die folgenden Titel mit dem Primat des römischen Bischofs in Zusammenhang stehen. Gegen Ende der Sammlung macht aber die anfangs wenigstens assoziativ nachvollziehbare Systematik einem – jedenfalls mit inhaltlichen Kriterien – kaum entwirrbaren Gemenge von Texten verschiedensten Inhalts Platz. Es fällt auf, daß die CA hier und nicht bei den vom Prozeßrecht handelnden Titeln 5-14 eingeordnet sind.

Bei der Redaktion der CA-Texte geht der Autor der 74-Titel-Sammlung energischer vor, als alle anderen Autoren von Kanonessammlungen, die wir für diese Untersuchung herangezogen haben. Es ist müßig, Überlegungen daran zu knüpfen, ob das Verfahren des Sentenzen-Autors als Fälschung zu bezeichnen sei oder nicht.[20] Änderungen wie in c. 291 (= CA 37a), wo die Kanones, die Papstdekrete und die guten Sitten durch die decreta sacrosancta Romanorum presulum ersetzt werden,[21] greifen jedenfalls einschneidend in die Rechtsverhältnisse ein, die die Quelle voraussetzt. Bezeichnend für die Tendenz der 74-Titel-Sammlung ist die Interpolation in c. 307 (= CA 20bis).[22] Die CA bedrohen jeden König und jeden Mächtigen mit dem Anathem, der die censura canonum verletzt oder ihre Verletzung erlaubt. Die Vorschrift richtet sich also gegen Laien. Der Sentenzenautor ersetzt zunächst (wie in c. 291) die Kanones wieder durch die Dekrete der römischen Bischöfe und erweitert die Strafandrohung auch auf Bischöfe. Die Tendenz der pseudoisidorischen Fälschungen wird damit fast in ihr Gegenteil verkehrt. Nach dem Willen ihrer Autoren sollten die Fälschungen dazu dienen, die Unabhängigkeit der einzelnen Bischöfe zu stärken. In den Sentenzen werden sie zum ersten Mal dazu benutzt, die Bischöfe eng an den Papst zu binden und damit ihre Unabhängigkeit zu untergraben.[23]


[1] Der Herausgeber der 74-Titel-Sammlung, J. T. Gilchrist ist in der Frage des Ursprungs der Sammlung zu keinem positiven Ergebnis gekommen.

[2] Vgl. ed. Gilchrist, S. 1 und 19. Eine englische Übersetzung der Sammlung liegt vor mit J. Gilchrist, The Collection in 74 Titles: A Canon Law Manual of the Gregoria Reform, 1980 (Medieval Sources in Translation 22). Zu weiterer Literatur vgl. Kéry, Canonical Collections, S. 207 ff.

[3] So J. Haller, Der Weg nach Canossa, HZ 160, 1939, S. 280.

[4] So Michel, Sentenzen, S. VII f.

[5] Vgl. Gilchrist, S. 17.

[6] Vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 493.

[7] DA 31, 1975, S. 251.

[8] Vgl. Gilchrist, S. IX.

[9] Vgl. ed. Gilchrist, S. CIV-CVIII.

[10] Vgl. ebd., S. 151 und S. CVI, ed. Hinschius, S. 183 Z. 1-5.

[11] Vgl. Gilchrist, S. VI; die entsprechende Stelle PL 130, Sp. 176C.

[12] Vgl. Montpellier, Bibl. de la Faculté de Médecine H.3, f. 55ra; Vat. lat. 1340, f. 44ra.

[13] Vgl. Gilchrist, S. CVI, Anm. 55.

[14] Zu dem eingeschobenen Text c. 306 aus den Akten von Chalkedon vgl. Schon, Exzerpte, S. 546 ff.

[15] Vgl. etwa CA 38, Z. @@@ - 74T c. 292: CA-Klassen B und C intulerit aliis - 74T aliis intulerit; CA 45, Z. @@@ - 74T c. 296: CA-Klassen B und C scripturam in publico - 74T in publico scripturam; CA 5bis, Z. @@@ - 74T c. 299: CA-Klassen B und C aut diaconem - 74T vel diaconem; CA 5bis, Z. @@@:CA-Klassen B und C: dandam ei - 74T ei dandam.

[16] Vgl. CA 1bis, Z. @@@ - 74T c. 298: CA-Klasse L reum se - 74T reus; CA 5bis, Z. @@@ - 74T c. 299: CA-Klasse L nisi in finem dandam ei non esse communionem - 74T nec in finem dandam ei esse communionem.

[17] Vgl. Michel, Sentenzen, S. 84 ff.

[18] So Fuhrmann, DA 31, 1975, S. 251.

[19] Ed. Gilchrist, S. 19.

[20] Dazu Michel, Sentenzen, S. 87 ff.

[21] Vgl. ed. Gilchrist, S. 172.

[22] Zur Tendenz der 74-Titel-Sammlung vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 506 ff., wo die Ansichten Michels und Fourniers über die Sentenzen als das "erste Rechtsbuch der päpstlichen Reform" relativiert werden. Wenig ergiebig ist in diesem Zusammenhang Gilchrists Editionseinleitung. Zur Arbeitsweise und Textbehandlung des Sentenzenautors vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 497 ff. mit weiterer Literatur. Vgl. auch Fuhrmann, DA 31, 1975, S. 248 ff.

[23] Vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 507 f.

© 2005 Karl-Georg Schon
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Zuletzt geändert am 6.7.2005

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