EINLEITUNG
I. Die Capitula
Angilramni und die pseudoisidorischen Fälschungen
Die Capitula
Angilramni (CA) sind Bestandteil der pseudoisidorischen
Fälschungen; sie sind zugleich ihr meistzitiertes
Stück und die erfolgreichste Fälschung der
kirchlichen Rechtsgeschichte. Die insgesamt 71 Kapitel
(gezählt von 1-51 und, in einer zweiten Reihe, von 1-20) sind
in den knapp zwei Dutzend wichtigsten Kanonessammlungen von der Mitte
des 9. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts an mehr als 230 Stellen
zitiert.[1]
Mit einer derartigen Rezeptionsdichte können sich selbst weit
berühmtere Fälschungen wie etwa das Constitutum
Constantini, das ins Dekret Burchards von Worms keinen Eingang gefunden
hat und im Dekret Gratians nur als Palea vertreten ist,[2]
oder einzelne Stücke der Falschen Dekretalen nicht messen.
Über den Ursprung der pseudoisidorischen Fälschungen
und damit der CA wissen wir seit einigen Jahren dank der Arbeiten von
Klaus Zechiel-Eckes recht gut Bescheid: Die Fälscher haben im
Kloster Corbie gearbeitet und zwar spätestens seit den
späten 30er Jahren des 9. Jahrhunderts. Einer der
führenden Köpfe war vermutlich der spätere
Abt von Corbie, Paschasius Radbertus.[3]
Die Fälscher hatten Erfolg im doppelten Sinne:
Während ihr Werk eine breite Spur im mittelalterlichen
Kirchenrecht hinterließ, gelang es ihnen, die Spuren, die auf
ihre eigene Person deuten könnten, so gründlich zu
verwischen, daß sie mehr als ein Jahrtausend lang unerkannt
blieben.
Um die Mitte des 9.
Jahrhunderts – genauer zwischen 847 und 852 –
tauchen zuerst in der Kirchenprovinz Reims kirchenrechtliche Texte auf,
die unter dem Namen von ehrwürdigen Autoritäten
laufen. Unter diesen Texten sind angebliche, bis dahin unbekannte
Briefe der Märtyrerpäpste der ersten drei
nachchristlichen Jahrhunderte mit einer kleinen
prozeßrechtlichen Sammlung, die Papst Hadrian I. (772-795)
dem Bischof Angilram von Metz (768-791) übergeben haben soll,
und eine angebliche Fortsetzung der Kapitulariensammlung des Abtes
Ansegis von Fontanelle (823-833). Diese Sammlungen sind bekannt als die
Falschen Dekretalen Pseudoisidors, die Capitula Angilramniund die
Kapitulariensammlung des Benedictus Levita.[4]Hinzu
kommt noch eine verfälschte Form der spanischen
Kanonessammlung, die sogenannte Hispana Gallica Augustodunensis(HGA)[5]
und zwei erst neuerdings als Werke Pseudoisidors erkannte Sammlungen,
nämlich die Nonnullae sanctiones sparsim collectae actionis
primae sancti et magni Chalcedonensis concilii[6]und
die Collectio Danielianader Handschrift Bern, Burgerbibliothek 442.[7]
Diese Fälschungen sind wohl sicher im Kloster Corbie
entstanden.[8]
Das Ziel der Fälscher bestand in erster Linie darin, die
Rechtsstellung der Suffraganbischöfe besonders
gegenüber dem Metropoliten und im Strafprozeß zu
stärken, so daß man unter den Fälschern
neben dem Mönch und Diakon Radbertus[9]
sicherlich wenigstens einen Suffraganbischof wird vermuten
müssen. Die Fälscher zielten jedoch noch weiter:
Angaben über die Liturgie, zum Eherecht, zur Sakramentenlehre
fehlen in ihren Werken ebenso wenig wie trinitarisch-christologische
Abhandlungen, die in der Diskussion über Pseudoisidor bisher
kaum gewürdigt wurden.[10]
Die
pseudoisidorischen Fälschungen sind von einem geradezu
imponierenden Umfang. Schon die Bearbeitung und Verfälschung
einer kompletten Kanonessammlung der historischen Ordnung wie der
Hispana stellt eine nicht gering zu veranschlagende Arbeitsleistung dar[11],
insbesondere wenn man die schauerliche Verunstaltung des
ursprünglichen Hispana-Textes in der unmittelbaren Vorlage der
Fälscher, einer Hispana Gallica, in Rechnung stellt[12].
Die drei Bücher und vier Additionen des Benedictus Levita[13]umfassen
1721 Kapitel und die Falschen Dekretalen füllen in der Ausgabe
von P. Hinschius[14]
mehr als 750 engbedruckte Seiten. Daneben nehmen sich die 71 Capitula
Angilramni[15]
und die 195 Kapitel der Collectio Danieliana[16]
ebenso bescheiden aus wie die in den Handschriften nur wenige Spalten
füllenden Nonnullae sanctiones[17].
Schon angesichts des Umfangs der Fälschungen wird man es
nahezu ausschließen können, daß die
pseudoisidorischen Fälschungen das Werk einer einzigen Person
gewesen sein sollten. Man wird sich vielmehr ein ganzes Team von
Fälschern an der Arbeit vorstellen müssen.
Die erste Frage,
die sich für die Arbeitstechnik der Fälscher stellt,
ist die Frage nach dem verwendeten Ausgangsmaterial. Bekanntlich hat
Pseudoisidor seine Texte nicht völlig frei erfunden, sondern
stützt sich auf echte Quellen, aus denen er mit mehr oder
weniger erheblichen Interpolationen mosaikartig neue angebliche
Rechtsquellen zusammenstellt.[18]
Bereits E. Seckelhat gezeigt, daß in den Falschen
Kapitularien längere Kapitelreihen begegnen, die der Abfolge
der entsprechenden Texte in der Vorlage des Benedictus
Levitaentsprechen.[19]
Bei der langen Reihe am Anfang des dritten Buches der Kapitularien
(Ben. 3,1-102), die letztlich aus der Collectio
Dionysio-Hadrianastammt, hat Seckeldargelegt, daß diese Reihe
nicht aus einem vollständigen Exemplar der Hadriana, sondern
auf einem Auszug aus dieser Sammlung beruht.[20]
Es wäre an sich durchaus möglich, daß die
Fälscher diesen Auszug irgendwo vorgefunden und für
ihre Zwecke verwendet hätten. Anhand der
CollectioDanielianaläßt sich jedoch zeigen,
daß dieser Auszug nicht den unverfälschten Text der
Hadrianaenthielt, sondern bereits verfälscht gewesen ist.[21]
Dieser verfälschte Auszug aus der Hadrianaist teils
mittelbare, teils unmittelbare Quelle für Ben. 1,22-34; 2,381
und 3,1-102 sowie für Teile der Collectio Danielianagewesen,
wobei keine dieser Fälschungen unmittelbar auf der anderen
beruht.[22]
Der Hadriana-Auszuggehört also zu den Rohmaterialien der
Fälscher. Eine ähnliche Exzerptreihe hat Seckelals
Quelle für die Auszüge aus der HGA in den einander
entsprechenden Reihen (bzw. Mischreihen) Ben. 2,300-342 und 3,150-254
festgestellt.[23]
Die gleiche Reihe ist auch in CA 4bis-9bis
benutzt. Die Fälscher haben also mindestens teilweise nicht
mit den vollständigen Quellen, sondern mit eigens
angefertigten, zum Teil auch schon verfälschten Exzerptreihen
gearbeitet. Einer der Gründe für diese Arbeitsweise
liegt sicherlich in der größeren Bequemlichkeit. Die
Exzerptreihen dienten als versatzstückartiges Rohmaterial.
Immerhin ist auch noch ein weiterer Grund denkbar. Man hat schon
häufig die große Zahl der von Pseudoisidor benutzten
Quellen zusammengestellt und ist dabei meist von der Voraussetzung
ausgegangen, daß den pseudoisidorischen Fälschern
eine einzige, außerordentlich reichhaltige Bibliothek zur
Verfügung stand[24]
– eine Bibliothek eben wie die des Klosters Corbie. Es
wäre darüber hinaus aber auch vorstellbar,
daß Pseudoisidor auch noch weitere Bestände
zurückgegriffen hat, sondern daß sich die
Fälscher ihr Material also in mehreren Bibliotheken
zusammengesucht haben. Wenn wir davon ausgehen, daß zum
Fälscherkreis mindestens ein Bischof gehörte, so
wäre dieser sicherlich in der Lage gewesen, seinen Helfern
Zugang zu verschiedenen Bibliotheken mindestens seiner eigenen
Diözese zu verschaffen, ohne damit größeren
Verdacht zu erregen. In diesen Bibliotheken wären dann die
erwähnten Exzerptreihen angefertigt worden, die den
Fälschern als Grundlage für ihre Arbeit dienten.
Diese Exzerptreihen wurden von den Fälschern teils
unmittelbar, teils in recht kunstvoller Verschränkung in die
Fälschungen aufgenommen.[25]
Ein Teil dieser weiterverarbeiteten Exzerptreihen ging freilich nicht
unmittelbar in die in Umlauf gesetzten Werke ein, sondern wurde
seinerseits zum Rohmaterial für immer weiter ausgefeilte
Fälschungen,[26]
so daß es außerordentlich schwierig ist, aus dem
Endprodukt die etwa zugrunde liegende Reihe analytisch
herauszupräparieren. Nahezu unmöglich ist dies in den
Falschen Dekretalen.
[1]Siehe
unten S. @@@.
[2]Vgl.
Petersmann, Die kanonistische Überlieferung, S. 389 f.
[3]
K. Zechiel-Eckes, Pseudoisidor auf der Spur, MGH Studien und Texte 31,
2002, S. 1 ff.
[4]
Die Literatur zu den pseudoisidorischen Fälschungen ist
schlechthin unübersehbar. Eine Zusammenfassung bis zum Anfang
der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts findet sich bei Fuhrmann,
Einfluß und Verbreitung 1, S. 137 ff. Diese ist zu
ergänzen mit Kéry, Canonical Collections, S. 118 ff.
[5]
Zu dieser erstmals von Maassen, Pseudoisidor-Studien I-II als solchen
erkannten pseudoisidorischen Fälschung vgl. Fuhrmann,
Einfluß und Verbreitung 1, S. 151 ff. Zur früher
unterschätzten Verbreitung der HGA vgl. Richter, Stufen, S. 21
ff. Ein Transkript nach der einzigen erhaltenen vollständigen
Handschrift (Vat. lat. 1341, s. IX, aus Corbie) findet sich im Internet
unter http://www.mittelalter.uni-tuebingen.de/grabowsky/collectio/.
[6]
Vgl. jetzt K. Zechiel-Eckes, Verecundus oder Pseudoisidor?, DA 56,
2000, S. 413 ff., der gezeigt hat, daß die Nonnullae
sanctiones unmittelbar auf den Akten von Chalkedon und nicht auf einem
Florileg fußen, wie ich ursprünglich angenommen
hatte (Vgl. Schon, Exzerpte, DA 32, 1976, S. 548 ff.).
[7]
Siehe unten S. @@@.
[8]
Vgl. K. Zechiel-Eckes, Pseudoisidors Werkstatt, Francia 28/1, 2001, S.
37 ff.
[9]
Siehe oben Anm. 3.
[10]
Vgl.Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 1, S. 191 ff. mit
reichhaltigen Literaturangaben. Zu den Tendenzen im einzelnen, vgl.
ebd., S. 145 ff. Zu den liturgischen Vorstellungen Pseudoisidors vgl.
H. Schneider, Geburtsurkunde des Weihwassers, in MGH Studien und Texte
31, 2002, S. 89 ff.
[11]
Vgl.Fuhrmann Einfluß und Verbreitung 1, S. 156 ff.
[12]
S. dazu den Variantenapparat zu den Konzilien Pseudoisidors unter http://www.pseudoisidor.de/html/teil_ii.html.
Die einzige erhaltene vollständige Handschrift der Hispana
Gallica (Wien Österreichische Nationalbibliothek 411, s. IX)
ist dort unter der Sigle W411 berücksichtigt.
[13]
Eine neue Ausgabe wird derzeit von G. Schmitz und W. Hartmann
vorbereitet, s. http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/haupt.htm.
[14]
Decretales Pseudoisidorianae et Capitula Angilramni rec. P. Hinschius,
1863.
[15]
Siehe unten S. @@@.
[16]
Siehe unten S. @@@.
[17]
Vgl.Schon, Exzerpte, S. 548 ff.
[18]
Vgl.Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 1, S. 178 ff.
[19]
Vgl. etwa Ben. 1,22-34 aus der Collectio
Dionysio-Hadriana, dazu Seckel,
NA 31, 1906, S. 68 ff.; Ben. 1,63-97 aus Ansegis, Buch 1 und 2, vgl.
ebd., S. 74 ff.; Ben. 1,143-168 aus dem Mainzer Konzil von 813, vgl.
ebd. S. 85 f.
[20]
Vgl.Seckel, NA 39, 1914, S. 330 f.
[21]
Siehe unten S. @@@..
[22]
Siehe unten S. @@@.
[23]
Vgl.Seckel, NA 39, 1914, S. 377 ff.
[24]
Vgl.Hinschius, S. CXIff.; Seckel, Studien zu Benedictus Levita, passim
und zuletzt die knappe Zusammenstellung bei Fuhrmann, Einfluß
und Verbreitung 1, S. 178 f.
[25]
Zu einer besonders kunstvoll angelegten, aus mehreren solcher
Exzerptreihen zusammengestellten Mischreihe, vgl. Seckel,NA 39, 1914,
S. 377 ff.
[26]
Zu einer ganzen Kombination von derartigen Zwischenfälschungen
und ihren Beziehungen zu den jeweiligen Endprodukten siehe unten S. @@@.
©
2005
Karl-Georg Schon
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Zuletzt geändert
am 14.3.2005
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