Projekt Pseudoisidor

Pseudoisidor

Capitula Angilramni

Collectio Danieliana

Pseudoisidor Teil I

Pseudoisidor Teil II

Pseudoisidor Teil III

Liber Tarraconensis

 

Sammlung des Kardinals Deusdedit

IV.9. Die Sammlung Anselms von Lucca

Vermutlich zwischen 1081/3 und 1086 hat Bischof Anselm von Lucca seine in 13 Bücher und 1149 Kapitel gegliederte Kanonessammlung verfaßt.[1] Anselm von Lucca ist, so weit bekannt, der früheste Kanonist des Mittelalters, der die CA fast vollständig – es fehlt nur c. 2 – als Kapitel 3,88 und 3,89 seinem Werk inkorporiert hat. Außerdem zitiert Anselm die CA noch an drei weiteren Stellen: 3,77 = CA 1bis; 4,41 = CA 20bis; 12,2 = CA 20bis. Wenn irgendwo, dann wäre also bei Anselm der "Kanal" zu suchen, durch den die CA in das Kirchenrecht des Mittelalters eingedrungen sind.[2] Die Sammlung Anselms ist auch die früheste der hier behandelten Sammlungen, die mit Sicherheit der sogenannten gregorianischen Kanonistik zuzurechnen ist.[3] Diese Sammlungen sind nicht nur durch ihre häufig ähnliche Tendenz, sondern auch durch ein ihnen gemeinsames quellenkritisches Problem gekennzeichnet: Oft schöpfen die gregorianischen Sammlungen Texte nicht unmittelbar aus uns überlieferten Kanonessammlungen, sondern aus Zwischensammlungen, die wir meist nur durch den Vergleich mehrerer gregorianischer Sammlungen erschließen können.[4] Wir müssen damit rechnen, daß auch die CA über eine derartige Zwischensammlung in Anselms Werk gelangt sind. Ausschließen läßt sich dabei die von Th. Sickel, E. Perels und P. Fournier ermittelte Sammlung (bzw. die von diesen Forschern ermittelten Sammlungen), die gemeinsame Quelle von Deusdedit und Anselm von Lucca gewesen ist. Deusdedit bietet die CA nämlich in anderer Form als Anselm.[5] Es wird sich jedoch herausstellen, daß einige Besonderheiten des CA-Textes im Polycarpus des Kardinalpriesters Gregorius von S. Grisogono und in der anonymen Sammlung in drei Büchern des Vat. lat. 3831 darauf hindeuten, daß die Autoren dieser beiden Sammlungen eine uns anscheinend nicht überlieferte Vorlage Anselms benutzt haben.[6] A. Amanieu[7] vermutet, Anselm habe mehrere Handschriften der Falschen Dekretalen zur Verfügung gehabt, darunter auch eine Handschrift der Langversion "du groupe auquel appartiennent le Mutinensis (IXe siècle) et le Parisiensis 3852 (XIe siècle) de Hinschius". Amanieu kannte beide Handschriften offenbar nur aus der Edition von Hinschius, und so drückt sich H. Fuhrmann wesentlich vorsichtiger aus: Anselm von Lucca habe "zumindest eine Handschrift der Langversion (A1 oder Ableitungen) herangezogen."[8]

Eine Analyse des von Anselm zitierten CA-Textes zeigt, daß er letztlich auf einer Handschrift der Cluny-Version (Klasse K) fußt. Dazu eine Tabelle der wichtigsten Lesarten:

 

Zeile

Klassen A,L,B,C

Klasse K

Anselm von Lucca

@@@

diffinierunt bzw. definierunt

finierunt

finierunt

@@@

damnetur

condemnetur

condemnetur

@@@

defensare

defendere

defendere

@@@

procuratores

ploratores

exploratores

@@@

sed per

sed

sed

@@@

qui

qui vel

qui vel

@@@

valeant bzw. valeat

valet et

valet et

@@@

non diaconus

diaconus non

diaconus non

 

Von einer Handschrift der Cluny-Version finden sich noch Spuren in der Luccheser Kapitelbibliothek. Die Handschrift Feliniana 123 (Plut. II) (s. IX) enthält die Kurzversion der Falschen Dekretalen sowie eine mit einer bestimmten Form der Kurzversion gewöhnlich verbundene Papstliste, die bis zu Benedikt III. (855-858) reicht.[9] Von einer Hand wohl der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ist diese Papstliste ergänzt worden und zwar in genau der eigentümlichen Weise, die für die Handschriften der Cluny-Version typisch ist.[10] Nimmt man diese Beobachtung zusammen mit der Andeutung H. Fuhrmanns, die Kurzversion-Handschrift von Lucca könne das Handexemplar Anselms gewesen sein,[11] fällt auch ein neues Licht auf eine Sonderform der Cluny-Version, die Merkmale der Kurzversion in der Form der Handschrift von Lucca aufweist.[12]

Es bleibt zu prüfen, woher Anselm die vereinzelt zitierten CA-Texte bezogen hat. 3,77 (= CA 1bis) dürfte aus Burchards Dekret 16,6 stammen, wobei ein Einfluß einer vielleicht auch Deusdedit 4,362 zugrunde liegenden Zwischensammlung nicht auszuschließen ist. Die falsche Inskription (Augustinus episcopus) dürfte auf ein Versehen des Bischofs von Lucca zurückgehen, da sowohl Burchard als auch Deusdedit den Text richtig Hadrian I. zuschreiben. 4,47 ( = CA 20bis) dürfte einer Zwischensammlung entstammen, die auch Deusdedit vorlag und einen CA-Auszug in 48 Kapiteln enthielt. Dafür spricht die Inskription Anselms, die mit der Deusdedits fast wörtlich übereinstimmt: Ex decretis papae Adriani ad Algilrammum (Deusdedit: Gilramnum) episcopum. Cap. (Cap. fehlt bei Deusdedit) XLVIII. Die Rubrik dürfte von Anselm stammen. 12,2 (CA 20bis) stammt ausweislich seiner Textgestalt aus c. 307 der 74-Titel-Sammlung. Die Rubrik stammt wohl wieder von Anselm.

Es ist auffällig, daß Anselm die CA in 3,88 und 3,89 ohne c. 2 zitiert. Inhaltlich kann er an diesem Kapitel kaum etwas Anstößiges gefunden haben. Der Text gestattet den Strafprozeß gegen einen Bischof nur vor einer mit Einverständnis des apostolischen Stuhles einberufenen Synode und begründet dies damit, daß dem apostolischen Stuhl iussione domini et meritis beati Petri apostoli die alleinige Gewalt übertragen sei, Konzilien einzuberufen. Anselm (1,52) hatte keine Bedenken, eine ähnliche Vorschrift, die letztlich auf die Praefatio Pseudoisidors zurückgeht,[13] dem Dekret Burchards von Worms (1,42) zu entnehmen. Die Gründe für die auffällige Streichung von CA 2 dürften am ehesten in der Systematik Anselms liegen. Buch 3 seiner Sammlung handelt De ordine accusandi, testificandi et iudicandi. Anselm mag es unpassend gefunden haben, innerhalb dieses Themenkreises den Primat des Papstes abzuhandeln, dem das erste Buch seiner Sammlung gewidmet ist. Wenn man will, kann man in der Streichung von CA 2 durch Anselm einen weiteren Beleg für die Umdeutung der pseudoisidorischen Fälschungen in der Kanonistik der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts sehen. Während Pseudoisidor die Vorrechte der römischen Kirche vorrangig in den Dienst der Bischöfe stellte, nimmt Anselm die einzige Primatsbestimmung, die sich in den CA findet, gleichsam aus den Niederungen des Verfahrensrechts heraus. Der Primat des römischen Bischofs ist bei ihm nicht wie bei Pseudoisidor sozusagen zweckgebunden.

In der Textbehandlung ist Anselm konservativ. Alle sinnändernden Interpolationen gegenüber dem Text der CA hat er bereits in seinen Vorlagen (Burchard von Worms, 74-Titel-Sammlung) vorgefunden. Wo sein Text von der Vorlage abzuweichen scheint, ist es entweder nicht sicher, ob er diese Änderungen nicht doch schon vorgefunden hat,[14] oder die Änderung ist ohne weiteres als Lese- oder Schreibfehler zu erklären.[15]


[1] Vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 509 ff. mit weiterer Literatur. Thaners Edition ist unvollständig (nur bis Buch 11,15) und unzuverlässig, vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 513, Anm. 236 und Gilchrist, Collection of Cod. Vat. lat. 3832, S. 142 f. mit Anm. 7. G. Motta, La redazione A "aucta" della Collectio Anselmi Episcopi Lucensis, in Studia in Honorem A. M. Stickler, S. 375-449, bietet einen Text nach den Hss. Venedig Bibl. Marc. IV.55 und Mantua Bibl. Com C.II.23. Weitere Literatur bei Kéry, Canonical Collections, S. 221 ff., die 18 Handschriften nennt. Die folgenden Ergebnisse basieren auf einer Kollation mit Vat. lat. 1363.

[2] Haller, Der Weg nach Canossa, HZ 160, 1939, S. 280 glaubte für Pseudoisidor diesen "Kanal" in der 74-Titel-Sammlung gefunden zu haben, vgl. dazu Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 492 f., der auch für die Verbreitung pseudoisidorischer Stücke aus den Sentenzen die Bedeutung der Sammlung Anselms von Lucca unterstreicht.

[3] Zu den Beziehungen zwischen Gregor VII. und Anselm von Lucca vgl. zuletzt Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 509 ff. mit weiterer Literatur.

[4] Zu den Zwischensammlungen, die Anselm und Deusdedit vorgelegen haben vgl. zuletzt Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 517 ff. Sickel, Privilegium Ottos I. S. 77 ff. hatte als erster eine derartige gemeinsame Vorlage von Anselm und Deusdedit rekonstruiert. Perels, Briefe Nikolaus' I. II, S. 78 ff. zeigte, daß Anselm und Deusdedit hinsichtlich der von ihnen zitierten Briefe Nikolaus' I. häufig auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen. Fournier, Les collections canoniques romaines, S. 365 ff. führte den analogen Beweis für viele weitere Stücke.

[5] Zu den CA bei Deusdedit siehe unten S. @@@.

[6] Siehe unten S. @@@.

[7] DDC 1, 1935, Artikel Anselme de Lucques, S. 572.

[8] Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 514.

[9] Vgl. Hinschius, S. XLII.

[10] Zu dieser Ergänzung vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 761 f. mit Anm. 15.

[11] Vgl. ebd. 2, S. 516.

[12] Vgl. Kerner u. a., Textidentifikation S. 38 und Schon, Redaktion, S. 506.

[13] Ed. Hinschius, S. 19 Z. 9-13.

[14] Z. B. Z. @@@: ploratores zu exploratores.

[15] Vgl. etwa Z. @@@: saecula zu ecclesia; Z. @@@: conventus zu convictus.

© 2005 Karl-Georg Schon
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Zuletzt geändert am 6.7.2005

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