IV.9. Die Sammlung Anselms von Lucca
Vermutlich zwischen
1081/3 und
1086 hat
Bischof Anselm von Lucca seine in 13 Bücher und 1149 Kapitel
gegliederte
Kanonessammlung verfaßt.
Anselm von Lucca ist, so weit bekannt, der früheste Kanonist
des
Mittelalters,
der die CA fast vollständig – es fehlt nur c. 2
– als
Kapitel 3,88 und 3,89
seinem Werk inkorporiert hat. Außerdem zitiert Anselm die CA
noch
an drei
weiteren Stellen: 3,77 = CA 1bis; 4,41 = CA 20bis;
12,2 =
CA 20bis. Wenn irgendwo, dann wäre also
bei Anselm der
"Kanal" zu suchen, durch den die CA in das Kirchenrecht des
Mittelalters eingedrungen sind.
Die Sammlung Anselms ist auch die früheste der hier
behandelten
Sammlungen, die
mit Sicherheit der sogenannten gregorianischen Kanonistik zuzurechnen
ist.
Diese Sammlungen sind nicht nur durch ihre häufig
ähnliche
Tendenz, sondern
auch durch ein ihnen gemeinsames quellenkritisches Problem
gekennzeichnet: Oft
schöpfen die gregorianischen Sammlungen Texte nicht
unmittelbar
aus uns
überlieferten Kanonessammlungen, sondern aus
Zwischensammlungen,
die wir meist
nur durch den Vergleich mehrerer gregorianischer Sammlungen
erschließen können.
Wir müssen damit rechnen, daß auch die CA
über eine
derartige Zwischensammlung
in Anselms Werk gelangt sind. Ausschließen
läßt sich
dabei die von Th. Sickel,
E. Perels und P. Fournier ermittelte Sammlung (bzw. die von diesen
Forschern
ermittelten Sammlungen), die gemeinsame Quelle von Deusdedit und Anselm
von
Lucca gewesen ist. Deusdedit bietet die CA nämlich in anderer
Form
als Anselm.
Es wird sich jedoch herausstellen, daß einige Besonderheiten
des
CA-Textes im Polycarpus des Kardinalpriesters
Gregorius von S.
Grisogono und in
der anonymen
Sammlung in drei Büchern des Vat. lat. 3831 darauf hindeuten,
daß die Autoren
dieser beiden Sammlungen eine uns anscheinend nicht
überlieferte
Vorlage
Anselms benutzt haben.
A. Amanieu
vermutet, Anselm habe mehrere Handschriften der Falschen Dekretalen zur
Verfügung
gehabt, darunter auch eine Handschrift der Langversion "du groupe
auquel
appartiennent le Mutinensis (IXe
siècle) et le
Parisiensis 3852 (XIe
siècle)
de Hinschius". Amanieu
kannte
beide Handschriften offenbar nur
aus der Edition von Hinschius, und so drückt sich H. Fuhrmann
wesentlich
vorsichtiger aus: Anselm von Lucca habe "zumindest eine Handschrift der
Langversion (A1 oder Ableitungen) herangezogen."
Eine Analyse des von
Anselm
zitierten
CA-Textes zeigt, daß er letztlich auf einer Handschrift der
Cluny-Version
(Klasse K) fußt. Dazu eine Tabelle der wichtigsten Lesarten:
Zeile
|
Klassen A,L,B,C
|
Klasse K
|
Anselm von Lucca
|
@@@
|
diffinierunt bzw. definierunt
|
finierunt
|
finierunt
|
@@@
|
damnetur
|
condemnetur
|
condemnetur
|
@@@
|
defensare
|
defendere
|
defendere
|
@@@
|
procuratores
|
ploratores
|
exploratores
|
@@@
|
sed per
|
sed
|
sed
|
@@@
|
qui
|
qui vel
|
qui vel
|
@@@
|
valeant bzw. valeat
|
valet et
|
valet et
|
@@@
|
non diaconus
|
diaconus non
|
diaconus non
|
Von einer Handschrift
der
Cluny-Version
finden sich noch Spuren in der Luccheser Kapitelbibliothek. Die
Handschrift Feliniana
123 (Plut. II) (s. IX)
enthält
die
Kurzversion der Falschen Dekretalen sowie eine mit einer bestimmten
Form der
Kurzversion gewöhnlich verbundene Papstliste, die bis zu
Benedikt III. (855-858) reicht.
Von einer Hand wohl der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts
ist
diese
Papstliste ergänzt worden und zwar in genau der
eigentümlichen Weise, die für
die Handschriften der Cluny-Version typisch ist.
Nimmt man diese Beobachtung zusammen mit der Andeutung H. Fuhrmanns,
die
Kurzversion-Handschrift von Lucca könne das Handexemplar
Anselms
gewesen sein,
fällt auch ein neues Licht auf eine Sonderform der
Cluny-Version,
die Merkmale
der Kurzversion in der Form der Handschrift von Lucca aufweist.
Es bleibt zu
prüfen, woher
Anselm die
vereinzelt zitierten CA-Texte bezogen hat. 3,77 (= CA 1bis)
dürfte
aus Burchards Dekret 16,6 stammen, wobei ein Einfluß einer
vielleicht auch
Deusdedit 4,362 zugrunde liegenden Zwischensammlung nicht
auszuschließen ist.
Die falsche Inskription (Augustinus episcopus) dürfte
auf
ein Versehen
des Bischofs von Lucca zurückgehen, da sowohl Burchard als
auch
Deusdedit den
Text richtig Hadrian I.
zuschreiben.
4,47 ( = CA 20bis)
dürfte einer
Zwischensammlung entstammen, die auch Deusdedit vorlag und einen
CA-Auszug in
48 Kapiteln enthielt. Dafür spricht die Inskription Anselms,
die
mit der
Deusdedits fast wörtlich übereinstimmt: Ex
decretis papae
Adriani ad
Algilrammum (Deusdedit: Gilramnum) episcopum. Cap.
(Cap. fehlt
bei
Deusdedit) XLVIII. Die Rubrik dürfte von
Anselm stammen.
12,2 (CA 20bis)
stammt ausweislich seiner Textgestalt aus c. 307 der 74-Titel-Sammlung.
Die
Rubrik stammt wohl wieder von Anselm.
Es ist
auffällig,
daß Anselm die CA in
3,88 und 3,89 ohne c. 2 zitiert. Inhaltlich kann er an diesem Kapitel
kaum
etwas Anstößiges gefunden haben. Der Text gestattet
den
Strafprozeß gegen einen
Bischof nur vor einer mit Einverständnis des apostolischen
Stuhles
einberufenen
Synode und begründet dies damit, daß dem
apostolischen Stuhl iussione domini
et meritis beati Petri apostoli die alleinige Gewalt
übertragen sei,
Konzilien einzuberufen. Anselm (1,52) hatte keine Bedenken, eine
ähnliche
Vorschrift, die letztlich auf die Praefatio Pseudoisidors
zurückgeht,
dem Dekret Burchards von Worms (1,42) zu entnehmen. Die Gründe
für die
auffällige Streichung von CA 2 dürften am ehesten in
der
Systematik Anselms
liegen. Buch 3 seiner Sammlung handelt De ordine accusandi,
testificandi et
iudicandi. Anselm mag es unpassend gefunden haben, innerhalb
dieses
Themenkreises den Primat des Papstes abzuhandeln, dem das erste Buch
seiner
Sammlung gewidmet ist. Wenn man will, kann man in der Streichung von CA
2 durch
Anselm einen weiteren Beleg für die Umdeutung der
pseudoisidorischen
Fälschungen in der Kanonistik der zweiten Hälfte des
11.
Jahrhunderts sehen. Während
Pseudoisidor die Vorrechte der römischen Kirche vorrangig in
den
Dienst der
Bischöfe stellte, nimmt Anselm die einzige Primatsbestimmung,
die
sich in den
CA findet, gleichsam aus den Niederungen des Verfahrensrechts heraus.
Der
Primat des römischen Bischofs ist bei ihm nicht wie bei
Pseudoisidor sozusagen
zweckgebunden.
In
der Textbehandlung ist Anselm konservativ. Alle
sinnändernden Interpolationen gegenüber dem Text der
CA hat
er bereits in
seinen Vorlagen (Burchard von Worms, 74-Titel-Sammlung) vorgefunden. Wo
sein
Text von der Vorlage abzuweichen scheint, ist es entweder nicht sicher,
ob er
diese Änderungen nicht doch schon vorgefunden hat,
oder die Änderung ist ohne weiteres als Lese- oder
Schreibfehler
zu erklären.
Haller,
Der
Weg nach Canossa, HZ 160,
1939, S. 280 glaubte für Pseudoisidor diesen "Kanal" in der
74-Titel-Sammlung gefunden zu haben, vgl. dazu Fuhrmann, Einfluß
und
Verbreitung 2, S. 492 f., der auch
für die Verbreitung
pseudoisidorischer Stücke aus den Sentenzen die Bedeutung der
Sammlung Anselms
von Lucca unterstreicht.
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2005 Karl-Georg
Schon
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Zuletzt
geändert am
6.7.2005
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