Projekt Pseudoisidor

Pseudoisidor

Capitula Angilramni

Collectio Danieliana

Pseudoisidor Teil I

Pseudoisidor Teil II

Pseudoisidor Teil III

Panormia Ivos von Chartres

 

Die Sammlung in sieben Büchern

IV.16. Der Polycarpus des Kardinals Gregor von S. Grisogono und die Sammlung in drei Büchern

Mit dem ca. 1106/7-1113 entstandenen Polycarpus des Kardinalpriesters Gregorius von S. Grisogono haben wir ein Werk der letzten vorgratianischen Kanonistengeneration vor uns.[1] Formal kündigt sich in den Sammlungen dieser Zeit gegenüber Sammlungen wie der Burchards von Worms ein feineres Gliederungsprinzip an. Abgesehen von der relativ kurzen Summa decretorum Haimonis und der Collectio Caesaraugustana haben alle Sammlungen, mit denen wir uns noch befassen werden – neben dem Polycarpus und der Sammlung in drei Büchern des Vat. 3831 die Sammlung in sieben Büchern des Vat. lat. 1346 und die in Thérouanne entstandene Sammlung in zehn Teilen – die relativ grobe Gliederung des Stoffes weiter unterteilt. Alle Bücher bzw. Teile der jeweiligen Sammlungen sind ihrerseits in Titel aufgegliedert, und diese Titel bilden die sachliche Klammer für die einzelnen Kapitel. Das Gliederungsprinzip des zweiten Teils von Gratians Concordia discordantium canonum kündigt sich an: Gratian teilt den Stoff in Causae ein, zu denen er Quaestiones aufwirft. Diese Quaestiones versucht mit dem alten Recht entnommenen Kanones und durch eigene erläuternde Dicta zu lösen.

Schon Aug. Theiner wußte von einem engen Zusammenhang zwischen dem Polycarpus und der Sammlung Anselms von Lucca.[2] P. Fournier stellte fest, daß die Sammlung des Bischofs von Lucca eine der wichtigsten Quellen des Kardinals und früheren Luccheser Archidiakons gewesen sei.[3] U. Horst vermutet, Gregor habe jedenfalls für einen großen Teil der von ihm herangezogenen Texte, die er mit der Sammlung Anselms gemeinsam hat, nicht die Sammlung des Bischofs von Lucca selbst, sondern eine verlorene Zwischensammlung des Typs benutzt, wie sie uns in der gregorianischen Kanonistik schon öfters begegnet ist.[4]

Die Frage ist nur durch einen Textvergleich zu entscheiden. Die CA sind an insgesamt 9 Stellen im Polycarpus zitiert:

 

Polycarpus

CA

Polycarpus

CA

1,29,10

37a

5,1,32

3-28

2,24,9

11

5,1,39

29-43a, 45-20bis

3,20,13

6bis

5,5,17

49

4,42,2

20bis

5,5,18

1bis

4,42,8

43b-44a

 

 

 

Nach U. Horst hat der Polycarpus für drei dieser Kapitel das Dekret Burchards herangezogen:

 

Polycarpus

Burchard

CA

3,20,13

3,199

6bis[5]

5,5,17

16,6

1bis[6]

5,5,18

16,14

49[7]

 

Ein Kapitel stammt laut Horst aus der Sammlung in zwei Büchern des Vat. lat. 3832, die ihrerseits auf die 74-Titel-Sammlung zurückgeht.[8] Zwei Kapitel seien entweder der Sammlung Anselms von Lucca oder einer Zwischensammlung entnommen: 5,1,32 = Anselm 3,88[9] und 5,l,39 = Anselm 3,89.[10] Für drei Kapitel macht Horst über die unmittelbare Vorlage des Polycarpus keine Angaben: 1,29,10=CA 37a[11]; 2,24,9 = CA 11[12]; 4,42,8 = CA 43b-44a[13]. Horsts Ergebnissen ist im wesentlichen zuzustimmen. Es bleibt zu klären, ob Kardinal Gregor für 5,1,32 und 5,1,39 die Sammlung Anselms oder eine Zwischensammlung zugrunde gelegt hat, die auch der Bischof von Lucca benutzt hat. Für eine Zwischensammlung als gemeinsame Vorlage könnte sprechen, daß Gregor in seiner Funktion als Luccheser Archidiakon (bis 1109/1111)[14] dieselbe Bibliothek offenstand, die auch Anselm mindestens zeitweise genutzt haben wird: die Dombibliothek von Lucca.[15] Die Bestimmung der Vorlage des Polycarpus ist nur durch Einbeziehung der mit dem Polycarpus eng zusammenhängenden

Sammlung in drei Büchern

möglich, von der wir weder den Verfasser noch den genauen Entstehungsort kennen.[16] Diese Sammlung macht von allen untersuchten Sammlung den stärksten Gebrauch von den CA. Abgesehen von vier Einzelzitaten[17] werden die CA fast vollständig[18] in zwei umfangreichen Reihen aufgenommen: 2,32,2-40 = CA 29-20bis[19] und 2,32,71-103 = CA 1-28[20]. Über den Zusammenhang zwischen Anselm, Polycarpus und der Sammlung in drei Büchern stehen zwei Thesen zur Diskussion: U. Horst nimmt an, Anselm und der Polycarpus gingen auf eine gemeinsame Vorlage zurück, schließt aber die unmittelbare Übernahme von Texten aus Anselm in den Polycarpus nicht aus.[21] Mit der Sammlung in drei Büchern hat sich Horst nicht beschäftigt. P. Fournier glaubte an eine einfachere Überlieferungslage: Der Polycarpus habe aus der Sammlung Anselms geschöpft,[22] und die Sammlung in drei Büchern gehe auf den Polycarpus zurück.[23] Mit Fourniers These ist es schwer zu vereinbaren, daß CA 1 im Polycarpus fehlt, aber bei Anselm und in der Sammlung in drei Büchern vorhanden ist. Aus weiteren Beobachtungen ergeben sich aber auch Schwierigkeiten für Horsts These: Einerseits stimmen nämlich gelegentlich die CA der Klasse K (also die Vorlage Anselms, künftig CAK), Anselm und die Sammlung in drei Büchern gegen den Polycarpus überein,[24] andererseits kommen auch Übereinstimmungen von CAK, Polycarpus und der Sammlung in drei Büchern gegen Anselm vor.[25] An einigen Stellen stimmen auch CAK und die Sammlung in drei Büchern gegen Anselm und den Polycarpus überein.[26] An keiner Stelle dagegen gibt es Übereinstimmungen von CAK und Polycarpus gegen Anselm und die Sammlung in drei Büchern. Daraus ergibt sich, daß die Sammlung in drei Büchern jedenfalls nicht unmittelbar aus der Sammlung Anselms abgeleitet ist. Da die Sammlung in drei Büchern gelegentlich mit dem Polycarpus gegen CAK und Anselm übereinstimmt, muß eine engere Verbindung zwischen den beiden erstgenannten Sammlungen bestehen. Allerdings kann die Sammlung in drei Büchen kaum unmittelbar aus dem Polycarpus abgeleitet sein, da sie öfters gemeinsame Lesarten mit CAK oder mit CAK und der Sammlung Anselms gegen den Polycarpus hat. Da sich umgekehrt auch die Sammlung in drei Büchern an manchen Stellen weiter von CAK entfernt als der Polycarpus, bleibt für das Verhältnis dieser beiden Sammlungen zueinander nur eine Möglichkeit übrig: Beide Sammlungen stammen aus einer gemeinsamen Vorlage. Da der Polycarpus und die Sammlung in drei Büchern an manchen Stellen mit CAK gegen Anselm von Lucca übereinstimmen, kann diese gemeinsame Quelle weder die Sammlung Anselms noch eine daraus abgeleitete Sammlung sein. Andererseits zeigt jedoch schon die Aufteilung der CA in zwei Kapitelreihen (c. 1-28 und c. 29-20 ), daß Anselm, der Polycarpus und die Sammlung in drei Büchern eng miteinander zusammenhängen. Dieser Zusammenhang läßt sich nach dem überlieferungsgeschichtlichen Befund nur folgendermaßen erklären: Anselm von Lucca hat auf eine uns nicht erhaltene Zwischensammlung zurückgegriffen, die ihrerseits aus der Cluny-Version geschöpft hat.[27] Diese Zwischensammlung war dann Quelle für die ebenfalls nicht erhaltene Vorlage der Sammlung in drei Büchern und des Polycarpus. Graphisch dargestellt:

X ist entweder eine der Zwischensammlungen der gregorianischen Kanonistik oder von Anselm selbst vorbereitetes Material für seine Kanonessammlung, und Y ist eine weitere Zwischensammlung.

Es bleibt zu klären, woher Gregor die Texte 1,29,10 = CA 37a; 2,24,9 = CA 11 und 4,42,8 = CA 43b-44a bezogen hat. In 2,24,9 findet sich nur eine signifikante Lesart: Der Polycarpus schreibt mit den Handschriften der Klasse K und den Handschriften Mü, Tr, Sa, Pa2 metropolitanus (Z. 88). Die anderen CA-Handschriften haben metropolitanus episcopus. Die beiden anderen Kapitel enthalten keine signifikanten Lesarten, sind jedoch näher inskribiert: Adrianus papa Engilkanno Mediomatrice urbis episcopo (so 1,29,10) bzw. Adrianus papa Engilkanno episcopo (so 4,42,8). Die Namensform Engilkannus begegnet nur in Handschriften der Klasse K. Es ist anzunehmen, daß alle drei Kapitel letztlich auf eine Handschrift dieser Klasse zurückgehen. Da die Cluny-Version auch X (und damit mittelbar Y) zugrundeliegt, hindert nichts an der Annahme, Gregor habe auch diese drei Kapitel einer dieser Zwischensammlungen entnommen.

Die Sammlung in drei Büchern zitiert außerhalb der großen CA-Reihen (2,32,2-40 und 2,32,71-103) die CA an vier weiteren Stellen: 1,8,4=CA 37a; 1,16,2=CA20bis; 2,34,55=CA 6bis; 3,15,3=CA 8bis. Die Quelle von 1,8,4 läßt sich ebenso wenig ermitteln wie die von 3,15,3. Die beiden übrigen Texte dürften mit dem Polycarpus zusammenhängen: 1,16,2=Polycarpus 4,42,2= (2L 2,213 = 74tit. c.307) = CA 20bis und 2,34,55 = Polycarpus 3,20,13 = (Burchard 3,199) = CA 6bis.


[1] Zum Polycarpus vgl. Horst, Polycarpus. Eine von H. Fuhrmann nach den Vorarbeiten von C. Erdmann und U. Horst besorgte Edition ist auf dem Server der MGH unter http://www.mgh.de/polycarp/ verfügbar. Vgl. Kéry, Canonical Collections, S. 266 ff.

[2] Vgl. Theiner, Disquisitiones criticae, S. 341 f.

[3] Vgl. Fournier-Le Bras, Hist. des coll. can. 2, S. 173.

[4] Vgl. Horst, Polycarpus, S. 46 ff. und ebd., S. 103 ff., wonach wenigstens 303 der 1540 Kapitel des Polycarpus - also etwa ein Fünftel - einer Zwischensammlung entnommen sind.

[5] Vgl. Horst, Polycarpus, S. 143.

[6] Vgl. ebd., S. 169.

[7] Vgl. ebd., S. 169.

[8] 4,42,2 = Sammlung in zwei Büchern 2,213 ( = 74tit. c. 307) = CA 20bis, vgl. Horst, Polycarpus, S. 162. Die Sammlung in zwei Büchern ist ediert von J. Bernhard, La collection en deux livres (Cod. Vat. lat. 3832), RDC 12, 1962.

[9] Vgl. Horst, Polycarpus, S. 165.

[10] Vgl. ebd., S. 166.

[11] Vgl. ebd., S. 115.

[12] Vgl. ebd., S. 122.

[13] Vgl. ebd., S. 162.

[14] Vgl. ebd., S. 1.

[15] Vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 2, S. 515 f.

[16] Grundlegend zu Sammlung in drei Büchern Fournier, Une collection canonique italienne, S. 343 ff. Zusammenfassung in Fournier-Le Bras, Hist. des coll. can. 2, S. 198 ff. Vgl. auch Erickson, The Collection in Three Books, S. 67 ff. P. Landau bereitet eine Ausgabe der Sammlung auf Grund der Materialien Mottas vor, vgl. Landau, Gratians unmittelbare Quellen, S. 176. Vgl. Kéry, Canonical Collections, S. 269 ff.

[17] 1,8,4; 1,16,2; 2,34,55; 3,15,3; siehe unten S. @@@.

[18] CA 2b, 43b und 44a fehlen.

[19] Vgl. Anselm 3,89 und Polycarpus 5,1,39.

[20] Vgl. Anselm 3,88 und Polycarpus 5,1,32.

[21] Vgl. Horst, Polycarpus, S. 45 ff.

[22] Vgl. Fournier-Le Bras, Hist. des coll. can. 2, S. 173.

[23] Vgl. ebd., S. 201.

[24] Vgl. etwa Z. @@@.: CAK Anselm und 3L: tempore in canonibus praefixo Nicenis concilium canonice convocare debebunt – Polycarpus: tempore in canonibus praefixo Niceni concilii convocare debebunt; Z. @@@: CAK Anselm und 3L: eiusdem – Polycarpus: eius; Z. @@@: CAK, Anselm und 3L: pristino – Polycarpus: primo; Z. @@@: CAK, Anselm und 3L.: obstruere - Polycarpus: constituere; Z. @@@: CAK, Anselm und 3L: induciae dentur – Polycarpus: inducias habeat.

[25] Vgl. etwa Z. @@@: CAK, Polycarpus und 3L: saecula – Anselm: ecclesia; Z. 84: CAK, Polycarpus und 3L: recipi – Anselm: recipere; Z. @@@: CAK, und 3L: quemcumque, Polycarpus: quaecumque – Anselm: quemcumque vera; Z. @@@: CAK, Polycarpus und 3L: reservavit – Anselm: reservaret.

[26] Vor allem zitiert 3L in der Rubrik zu 2,32,71 fast vollständig die CA-Rubrik, die sich bei Anselm und im Polycarpus nicht findet. Ferner Z. @@@: CAK und 3L: conventus – Anselm und Polycarpus: convictus; Z. @@@: CAK und 3L: iudicari – Anselm und Polycarpus: diiudicari; Z. @@@: CAK, und 3L: in publico – Anselm und Polycarpus: publico.

[27] In Frage käme als Zwischensammlung auch von Anselm selbst angelegtes vorbereitendes Material, das sich zu der Zeit, als Gregorius Archidiakon in Lucca war, noch in der Dombibliothek befunden haben könnte.

© 2005 Karl-Georg Schon
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Zuletzt geändert am 6.7.2005

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