IV.2. Die CA in den Auseinandersetzungen zwischen
Hinkmar von Reims und
Hinkmar von Laon
Über die
erste
unbezweifelbare Benutzung
der CA liegen uns nur indirekte Nachrichten vor. Auf der Synode von
Douzy
(August 871) begründet Bischof Odo von Beauvais (861-881)
seinen
Urteilsspruch
gegen Bischof Hinkmar von Laon (858-871, +879) damit, daß
dieser
seinen Klerus
ohne Wissen des Metropoliten einen libellus habe
unterschreiben lassen,
in dem es unter anderem geheißen habe, ut delatori
lingua
capuletur aut
convicto caput amputetur.
Dieser Satz geht letztlich auf den Codex
Theodosianus zurück.
Er ist über die Epitome Parisiensis
in die CA (c. 44) und zu Ben. 3,361 gewandert. H.
Fuhrmann hat
es
wahrscheinlich gemacht, daß die
CA insgesamt in den libellus Hinkmars, bei dem es
sich um das
Unterschriftenwerk vom 8. Juli 869 handelt, aufgenommen waren.
Vermutlich bezieht sich also die Sentenz Odos von Beauvais auf einen
Satz aus
den CA und ist somit der Beleg für die älteste, uns
leider
nicht überlieferte
Benutzung der CA.
Vier Monate nach dem
Unterschriftenwerk
legte Hinkmar von Laon der Versammlung von Gondreville
ein neues Opus vor: den sogenannten Pittaciolus.
Den wesentlichen Inhalt hat der Bischof von Laon
in den
ersten drei von
zehn Distichen zusammengefaßt, die er seinem Werk
voranstellte:
Iste pitatiolus plane
depromit
et apte
Sedem appellandam
libere
apostolicam
Quin appellantem haud
vinclis
artarier ullis
Responsum a vincto
rite nec
exigier
Archique pontifici
distinguit
iusque modumque
Cum compraesulibus
ceu teneat
sobrius.
Die Sammlung soll
demnach
über das
Appellationsrecht, über das Recht eines Gefangenen zur
Aussageverweigerung
sowie über die Rechtsstellung des Erzbischofs und seinen
Umgang
mit seinen
Mitbischöfen Auskunft geben. Zu diesen Fragen hatten die CA
einiges zu bieten,
und Hinkmar von Laon versäumt auch nicht, sie an mehreren
Stellen
anzuführen.
Unter den rund 50, zum größten Teil aus den Falschen
Dekretalen entnommenen
Exzerpten stammen vier aus den CA.
Das nach Sirmonds Einteilung 11. Kapitel des Pittaciolus
zitiert CA 11, das 15. Kapitel
CA 3i und das 19. Kapitel ist aus CA 3e-m und 11 zusammengesetzt.
Die Rubrik zu den CA schließlich ist in der Rubrik zu c. 11
des
Pittaciolus aufgenommen
und bietet einen Hinweis auf die Version der CA, die Hinkmar von Laon
benutzt
haben könnte: Die Namensform Ingilramno, wie
sie im
Pittaciolus steht,
kommt lediglich in den Handschriften der Klasse L sowie in der Rubrik
der 5.
Untersammlung der Handschrift Berlin Phillipps 1764
vor. Eine weitere Handschrift (Paris 9629, Nr. 4) schreibt
ähnlich Ingilramo. Im Text zeigt Hinkmar
keine Beziehungen zu Handschrift
4, wohl aber zu
Klasse L
und zu
der 5. Untersammlung der Berliner Handschrift. Die
Übereinstimmungen zwischen
dem Pittaciolus und der 5. Untersammlung scheinen
zwar
geringfügig,
gewinnen aber dadurch an Gewicht, daß die 5. Untersammlung in
enger Verbindung
mit auf Hinkmar von Laon zurückgehendem Material stehen.
Mindestens stützen
diese Übereinstimmungen die Annahme, daß auch die 5.
Untersammlung mit Hinkmar
von Laon zusammenhängt. Die Übereinstimmungen des
Pittaciolus mit
Handschriftenklasse L könnten ein Anzeichen dafür
sein,
daß mindestens eine
Vorform von L bereits im 9. Jahrhundert vorlag und von Hinkmar von Laon
benutzt
wurde.
Hinkmar von Laon hat
aus den CA
Texte
ausgewählt, die im Einklang mit den zitierten Distichen
einerseits
den Bischof
im Strafprozeß schützen sollen (c. 16 und c. 19 aus
CA 3)
und andererseits die
Macht des Metropoliten beschränken (c. 11 und c. 19b = CA 11).
Obwohl die CA
auch Texte über das Appellationsrecht bieten,
hat Hinkmar für diese Materie nicht die CA, sondern aus den
Falschen Dekretalen
besonders die pseudonikänischen Kanones herangezogen.
Nur wenige Monate
nach der
Versammlung von
Gondreville brach zwischen Hinkmar von Laon und Hinkmar von Reims ein
neuer
Streit aus. Der Bischof von Laon hatte einen gewissen Nivinus, den
Hinkmar von
Reims wegen Vergewaltigung und Entführung einer Nonne
exkommuniziert hatte, in
seine Diözese aufgenommen.
In einem Brief vom 13. Februar 870
macht Hinkmar von Reims seinem Neffen Vorhaltungen wegen dieser
Handlungsweise.
In seiner wohl Ende Februar 870 geschriebenen Antwort
rechtfertigt sich der jüngere Hinkmar unter anderem wieder
unter
Hinweis auf CA
11. Diesmal soll der Kanon weniger Hinkmar von Reims in seiner
Eigenschaft als
Metropolit als vielmehr den Reimser Bischof Hinkmar treffen. Das
Kapitel ist
nämlich in eine Exzerptreihe aufgenommen, die die
Unrechtmäßigkeit der
Exkommunikation des Nivinus beweisen soll. Textlich entspricht das Zitat
weitgehend c. 11 des Pittaciolus.
Dies könnte darauf hindeuten, daß Hinkmar von Laon
hier den
Pittaciolus herangezogen
hat, zumal das im Brief unmittelbar auf CA 11 folgende Zitat aus
Ps.-Damasus
im Pittaciolus CA 11 unmittelbar vorangeht.
Möglich sind aber auch die nicht sicher identifizierbare
unmittelbare Vorlage
des Pittaciolus
oder
die CA unmittelbar.
Die Angriffe Hinkmars
von Laon
drohten die
Metropolitenstellung seines Onkels in den Grundfesten zu
erschüttern. Im
zweiten Quartal 870 holte Hinkmar von Reims zum literarischen
Gegenschlag aus.
Mit dem in dieser Zeit entstandenen Opusculum LV capitulorum
gelang dem Reimser Erzbischof eine "massive
Antwort"
auf die Angriffe seines Suffragans und Neffen. Uns interessiert hier,
wie
Hinkmar von Reims die CA beurteilte und in welcher Form er sie zitierte.
In c. 24 werden die
von dem
jüngeren
Hinkmar zitierten CA scharf kritisiert. Jeder, der diese angeblichen (quae
dicuntur) Kapitel des Papstes Hadrian lese, sehe sofort,
daß
sie einander
widersprächen. Dann greift der Reimser Erzbischof die Texte
heraus, die dem
Kirchenrecht am meisten zuwiderlaufen: Delatori, inquiunt (scil:
sententiae), aut lingua capuletur aut convicto caput amputetur. Iudex
criminosum discutiens non ante sententiam proferat capitalem, quam aut
reus
ipse confiteatur aut per innocentes testes convincatur. Testes autem
sine
aliqua sint infamia uxores et filios habentes et omnino Christum
praedicantes.
Testimonium clerici adversus laicum nemo suscipiat.
Hinkmar von Reims läßt sich
erst gar nicht
auf eine Diskussion dieser
Stellen ein, sondern er fährt fort: Quae quantum
aliena sint a
sacris
canonibus, et quantum inimica sint ecclesiasticis iudiciis, nemo est,
qui
ignoret. Dann kehrt der Reimser Erzbischof die Waffe, die
sein
Suffragan
gegen ihn erhoben hatte, gegen diesen selbst. Er wirft dem
jüngeren Hinkmar
vor, sich selbst nicht an die von ihm aufgestellten Grundsätze
gehalten zu
haben und weist auf CA 19, 23 und 49 hin, die die persönliche
Anwesenheit
beider Parteien vor Gericht fordern. Gegen diesen Rechtssatz habe
Hinkmar von
Laon verstoßen, als er excommunicationes deo et
praeceptis
eius contrarias,
de quibus te scriptis redargui, ausgesprochen habe.
Ein besonders scharfes Argument hatte sich Hinkmar von Reims
für
den Schluß
seiner Abhandlung über die CA aufgehoben. In diesen Kapiteln
sei
festgelegt (CA
25 am Ende), daß ein Bischof nur von denjenigen gerichtet
werden
könne, die ihn
auch hätten weihen können, also von seinen
Komprovinzialen.
Damit widerspreche
Hinkmar von Laon seiner eigenen Behauptung, wonach er nur vom Papst
gerichtet
werden dürfe.
Der
Schlag, den Hinkmar von Reims den von seinem
Neffen zitierten CA versetzt hatte, wurde offenbar auch von diesem
selbst als
vernichtend angesehen. Hinkmar von Laon kommt auf die CA, soweit
bekannt, bis
zu seiner Absetzung im August 871 nicht mehr zurück.
Vgl. Pittaciolus
c. 11 ( = CA
11) und c. 19b ( = CA 11), wo
Klasse L ebenso wie der Pittaciolus am Anfang schreibt Nullus
metropolitanus episcopus (Z. @@@) und in der Mitte (Z. @@@.)
causam
in synodo pro facto
dabit (statt dabunt). Vgl. Pittaciolus
c. 19a ( =
CA 3d = 5.
Untersammlung 14d): Pittaciolus und 5.
Untersammlung in
eclesia, dagegen
CA in saecula (CA Z. @@@); CA 3d = 5.
Untersammlung 14d: Pittaciolus und
5. Untersammlung: Tempore in canonibus praefixo Niceni
concilii canonice
convocare, CA dagegen: tem-pore in canonibus
praefixo Nicenis
concilium canonice convocare (CA Z. 32 f.; 5.
Untersammlung Z.
102); CA
3f=5. Untersammlung 14f: 5. Untersammlung und Pittaciolus:
alienum
ab omnibus debet esse fidelibus, CA 3d:
alienum ab
omnibus esse debet
fidelibus.
Eine
Abweichung: nisi praesentia clericorum suorum confirmetur
statt nisi
praesentia clericorum confirmetur (Z. @@@) im Pittaciolus und
in
allen
bekannten CA-Handschriften.
©
2005 Karl-Georg
Schon
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er steht unter der
GNU
Free Documentation License.
Demnach dürfen Sie ihn frei weiter verbreiten und bearbeiten,
vorausgesetzt Sie nennen den Namen des ursprünglichen Autors
und
Sie geben auch anderen das Recht den von Ihnen bearbeiteten oder
verbreiteten Text unter den gleichen Bedingungen weiter zu verbreiten.
Im einzelnen finden Sie Bestimmungen der GNU Free Documentation License
unter dem Menüpunkt Lizenz.
Zuletzt
geändert am
6.7.2005
|