Projekt Pseudoisidor

Pseudoisidor

Capitula Angilramni

Collectio Danieliana

Pseudoisidor Teil I

Pseudoisidor Teil II

Pseudoisidor Teil III

Hadrian II.

 

Kanonessammlungen des
9. und 10. Jahrhunderts

IV.2. Die CA in den Auseinandersetzungen zwischen Hinkmar von Reims und Hinkmar von Laon

Über die erste unbezweifelbare Benutzung der CA liegen uns nur indirekte Nachrichten vor. Auf der Synode von Douzy (August 871) begründet Bischof Odo von Beauvais (861-881) seinen Urteilsspruch gegen Bischof Hinkmar von Laon (858-871, +879) damit, daß dieser seinen Klerus ohne Wissen des Metropoliten einen libellus habe unterschreiben lassen, in dem es unter anderem geheißen habe, ut delatori lingua capuletur aut convicto caput amputetur.[1] Dieser Satz geht letztlich auf den Codex Theodosianus zurück.[2] Er ist über die Epitome Parisiensis[3] in die CA (c. 44) und zu Ben. 3,361 gewandert. H. Fuhrmann hat es wahrscheinlich gemacht, daß die CA insgesamt in den libellus Hinkmars, bei dem es sich um das Unterschriftenwerk vom 8. Juli 869 handelt, aufgenommen waren.[4] Vermutlich bezieht sich also die Sentenz Odos von Beauvais auf einen Satz aus den CA und ist somit der Beleg für die älteste, uns leider nicht überlieferte Benutzung der CA.

Vier Monate nach dem Unterschriftenwerk legte Hinkmar von Laon der Versammlung von Gondreville[5] ein neues Opus vor: den sogenannten Pittaciolus.[6] Den wesentlichen Inhalt hat der Bischof von Laon in den ersten drei von zehn Distichen zusammengefaßt, die er seinem Werk voranstellte:

Iste pitatiolus plane depromit et apte

Sedem appellandam libere apostolicam

Quin appellantem haud vinclis artarier ullis

Responsum a vincto rite nec exigier

Archique pontifici distinguit iusque modumque

Cum compraesulibus ceu teneat sobrius.[7]

Die Sammlung soll demnach über das Appellationsrecht, über das Recht eines Gefangenen zur Aussageverweigerung sowie über die Rechtsstellung des Erzbischofs und seinen Umgang mit seinen Mitbischöfen Auskunft geben. Zu diesen Fragen hatten die CA einiges zu bieten, und Hinkmar von Laon versäumt auch nicht, sie an mehreren Stellen anzuführen. Unter den rund 50, zum größten Teil aus den Falschen Dekretalen entnommenen Exzerpten stammen vier aus den CA.[8] Das nach Sirmonds Einteilung 11. Kapitel des Pittaciolus[9] zitiert CA 11, das 15. Kapitel[10] CA 3i und das 19. Kapitel ist aus CA 3e-m und 11 zusammengesetzt.[11] Die Rubrik zu den CA schließlich ist in der Rubrik zu c. 11 des Pittaciolus aufgenommen[12] und bietet einen Hinweis auf die Version der CA, die Hinkmar von Laon benutzt haben könnte: Die Namensform Ingilramno, wie sie im Pittaciolus steht, kommt lediglich in den Handschriften der Klasse L sowie in der Rubrik der 5. Untersammlung der Handschrift Berlin Phillipps 1764[13] vor. Eine weitere Handschrift (Paris 9629, Nr. 4) schreibt ähnlich Ingilramo. Im Text zeigt Hinkmar keine Beziehungen zu Handschrift 4, wohl aber zu Klasse L[14] und zu der 5. Untersammlung der Berliner Handschrift. Die Übereinstimmungen zwischen dem Pittaciolus und der 5. Untersammlung scheinen zwar geringfügig, gewinnen aber dadurch an Gewicht, daß die 5. Untersammlung in enger Verbindung mit auf Hinkmar von Laon zurückgehendem Material stehen. Mindestens stützen diese Übereinstimmungen die Annahme, daß auch die 5. Untersammlung mit Hinkmar von Laon zusammenhängt. Die Übereinstimmungen des Pittaciolus mit Handschriftenklasse L könnten ein Anzeichen dafür sein, daß mindestens eine Vorform von L bereits im 9. Jahrhundert vorlag und von Hinkmar von Laon benutzt wurde.

Hinkmar von Laon hat aus den CA Texte ausgewählt, die im Einklang mit den zitierten Distichen einerseits den Bischof im Strafprozeß schützen sollen (c. 16 und c. 19 aus CA 3) und andererseits die Macht des Metropoliten beschränken (c. 11 und c. 19b = CA 11). Obwohl die CA auch Texte über das Appellationsrecht bieten,[15] hat Hinkmar für diese Materie nicht die CA, sondern aus den Falschen Dekretalen besonders die pseudonikänischen Kanones herangezogen.

Nur wenige Monate nach der Versammlung von Gondreville brach zwischen Hinkmar von Laon und Hinkmar von Reims ein neuer Streit aus. Der Bischof von Laon hatte einen gewissen Nivinus, den Hinkmar von Reims wegen Vergewaltigung und Entführung einer Nonne exkommuniziert hatte, in seine Diözese aufgenommen.[16] In einem Brief vom 13. Februar 870[17] macht Hinkmar von Reims seinem Neffen Vorhaltungen wegen dieser Handlungsweise. In seiner wohl Ende Februar 870 geschriebenen Antwort[18] rechtfertigt sich der jüngere Hinkmar unter anderem wieder unter Hinweis auf CA 11. Diesmal soll der Kanon weniger Hinkmar von Reims in seiner Eigenschaft als Metropolit als vielmehr den Reimser Bischof Hinkmar treffen. Das Kapitel ist nämlich in eine Exzerptreihe aufgenommen, die die Unrechtmäßigkeit der Exkommunikation des Nivinus beweisen soll. Textlich entspricht das Zitat[19] weitgehend c. 11 des Pittaciolus[20]. Dies könnte darauf hindeuten, daß Hinkmar von Laon hier den Pittaciolus herangezogen hat, zumal das im Brief unmittelbar auf CA 11 folgende Zitat aus Ps.-Damasus[21] im Pittaciolus CA 11 unmittelbar vorangeht.[22] Möglich sind aber auch die nicht sicher identifizierbare unmittelbare Vorlage des Pittaciolus[23] oder die CA unmittelbar.

Die Angriffe Hinkmars von Laon drohten die Metropolitenstellung seines Onkels in den Grundfesten zu erschüttern. Im zweiten Quartal 870 holte Hinkmar von Reims zum literarischen Gegenschlag aus. Mit dem in dieser Zeit entstandenen Opusculum LV capitulorum[24] gelang dem Reimser Erzbischof eine "massive Antwort"[25] auf die Angriffe seines Suffragans und Neffen. Uns interessiert hier, wie Hinkmar von Reims die CA beurteilte und in welcher Form er sie zitierte.

In c. 24 werden die von dem jüngeren Hinkmar zitierten CA scharf kritisiert. Jeder, der diese angeblichen (quae dicuntur) Kapitel des Papstes Hadrian lese, sehe sofort, daß sie einander widersprächen. Dann greift der Reimser Erzbischof die Texte heraus, die dem Kirchenrecht am meisten zuwiderlaufen: Delatori, inquiunt (scil: sententiae), aut lingua capuletur aut convicto caput amputetur. Iudex criminosum discutiens non ante sententiam proferat capitalem, quam aut reus ipse confiteatur aut per innocentes testes convincatur. Testes autem sine aliqua sint infamia uxores et filios habentes et omnino Christum praedicantes. Testimonium clerici adversus laicum nemo suscipiat.[26] Hinkmar von Reims läßt sich erst gar nicht auf eine Diskussion dieser Stellen ein, sondern er fährt fort: Quae quantum aliena sint a sacris canonibus, et quantum inimica sint ecclesiasticis iudiciis, nemo est, qui ignoret. Dann kehrt der Reimser Erzbischof die Waffe, die sein Suffragan gegen ihn erhoben hatte, gegen diesen selbst. Er wirft dem jüngeren Hinkmar vor, sich selbst nicht an die von ihm aufgestellten Grundsätze gehalten zu haben und weist auf CA 19, 23 und 49 hin, die die persönliche Anwesenheit beider Parteien vor Gericht fordern. Gegen diesen Rechtssatz habe Hinkmar von Laon verstoßen, als er excommunicationes deo et praeceptis eius contrarias, de quibus te scriptis redargui, ausgesprochen habe.[27] Ein besonders scharfes Argument hatte sich Hinkmar von Reims für den Schluß seiner Abhandlung über die CA aufgehoben. In diesen Kapiteln sei festgelegt (CA 25 am Ende), daß ein Bischof nur von denjenigen gerichtet werden könne, die ihn auch hätten weihen können, also von seinen Komprovinzialen. Damit widerspreche Hinkmar von Laon seiner eigenen Behauptung, wonach er nur vom Papst gerichtet werden dürfe.

Der Schlag, den Hinkmar von Reims den von seinem Neffen zitierten CA versetzt hatte, wurde offenbar auch von diesem selbst als vernichtend angesehen. Hinkmar von Laon kommt auf die CA, soweit bekannt, bis zu seiner Absetzung im August 871 nicht mehr zurück.


[1] Mansi 16, Sp. 674A.

[2] Cod. Theod. 10,10,2 ( = Brev. Cod. Theod. 10,5,1) ed. Mommsen, S. 540.

[3] Brev. Cod. Theod. 10,5,1 Epitome Parisiensis, ed. Haenel, S. 214.

[4] Vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 703 ff.

[5] Dazu und zu den Auseinandersetzungen "zwischen Hinkmar von Laon und Hinkmar von Reims um die Geltung des pseudoisidorischen Rechts" vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 651 ff., das Zitat aus der Kapitelüberschrift, S. 651.

[6] Ed. Sirmond, Opera Hincmari 2, S. 355 ff.. Vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 712 ff. und öfters sowie McKeon, Hincmar of Laon and Carolingian Politics, 1978, S. 71 ff.

[7] Ed. Sirmond, Opera Hincmari, S. 355.

[8] Vgl. die Quellenanalyse des Pittaciolus bei Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 713 ff.

[9] Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 716, Nr. 17, ed. Sirmond, Opera Hincmari 2, S. 362.

[10] Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 718, Nr. 25, ed. Sirmond, Opera Hincmari 2, S. 368.

[11] Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 718, Nr. 28 und 29, ed. Sirmond, Opera Hincmari 2, S. 372 f.

[12] Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 716, Nr. 17, ed. Sirmond, Opera Hincmari 2, S. 362. Der von Fuhrmann nach der Handschrift Metz, Bibl. municipale 351 mitgeteilte und nur in dieser Handschrift überlieferte Zusatz quam pro sui negotii causa agebatur ist zwar quellentreu, wirkt aber in der Gestaltung der Rubrik zusatzartig.

[13] Ed. Schieffer,  MGH Conc. 4, Suppl. 2, 2003, S. 42 ff.

[14] Vgl. Pittaciolus c. 11 ( = CA 11) und c. 19b ( = CA 11), wo Klasse L ebenso wie der Pittaciolus am Anfang schreibt Nullus metropolitanus episcopus (Z. @@@) und in der Mitte (Z. @@@.) causam in synodo pro facto dabit (statt dabunt). Vgl. Pittaciolus c. 19a ( = CA 3d = 5. Untersammlung 14d): Pittaciolus und 5. Untersammlung in eclesia, dagegen CA in saecula (CA Z. @@@); CA 3d = 5. Untersammlung 14d: Pittaciolus und 5. Untersammlung: Tempore in canonibus praefixo Niceni concilii canonice convocare, CA dagegen: tem-pore in canonibus praefixo Nicenis concilium canonice convocare (CA Z. 32 f.; 5. Untersammlung Z. 102); CA 3f=5. Untersammlung 14f: 5. Untersammlung und Pittaciolus: alienum ab omnibus debet esse fidelibus, CA 3d: alienum ab omnibus esse debet fidelibus.

Da die 5. Untersammlung wohl über die Collectio Danieliana bzw. über eine mit dieser Sammlung eng verwandte Quelle Materialien aus der Fälscherwerkstatt bezogen haben (siehe unten S. 124 ff.), läßt sich die Verbindung Hinkmars von Laon zu diesen Texten nur auf zweierlei Art erklären: Entweder Hinkmar von Laon, der ja gelegentlich auch zu der - freilich kaum je recht definierten - "pseudoisidorischen Partei" gerechnet wurde (vgl. Betz, Hinkmar von Reims, S. 181) hatte Kontakte zu den Mitgliedern des Fälscherkreises (Schmitz, Die allmählich Verfertigung der Gedanken beim Fälschen, MGH Studien und Texte 31, S. 36 spricht von Hinkmars "pseudoisidorischen Ohrenbläsern") oder er fand die Materialien in Laon vor. In beiden Fällen würden sich Verbindungen der Fälscher zur Kirche von Laon ergeben, ohne daß damit allerdings die Fälscherwerkstatt in Laon lokalisiert wäre.

[15] Vgl. z. B. CA 3, 5, 20.

[16] Vgl. im einzelnen Devisse, Hincmar 2, S. 748 und McKeon (wie Anm. 231) S. 75 f.

[17] Ed. Sirmond, Opera Hincmari 2, S. 334.

[18] Ebd., S. 335 ff.

[19] Ebd., S. 338 oben.

[20] Eine Abweichung: nisi praesentia clericorum suorum confirmetur statt nisi praesentia clericorum confirmetur (Z. @@@) im Pittaciolus und in allen bekannten CA-Handschriften.

[21] Ed. Hinschius, S. 502 Z. 35-503 Z. 6.

[22] Ed. Sirmond, Opera Hincmari 2, S. 362.

[23] Vgl. Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 712 ff.

[24] Ed. Sirmond, Opera Hincmari 2, S. 377 ff., hier anhand der anscheinend einzigen erhaltenen vollständigen Handschrift Paris, Bibl. nat lat. 2865 (s. IX 3/4) verglichen.

[25] Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung 3, S. 667.

[26] Es ist bemerkenswert, daß Hinkmar von Reims mit dem Satz Delatori aut lingua capuletur aut convicto caput amputetur genau die gleiche Stelle aus den CA herausgegriffen hat, mit deren Hilfe mehr als 900 Jahre später auch die Gebrüder Ballerini (Migne PL 56. Sp. 244D) ihren Beweis der Unechtheit der CA stützten.

[27] Es ist nicht klar, welche Exkommunikationen Hinkmar von Reims meint. Wir wissen nur, daß der Reimser Erzbischof seinen Neffen wegen des Interdikts scharf angegriffen hat (Schrörs, Hinkmar, Regest Nr. 234), das dieser im April 868 über seine Diözese verhängt hatte. Für diesen Fall sind aber die von Hinkmar von Reims angeführten Sätze aus den CA nicht einschlägig.

© 2005 Karl-Georg Schon
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Zuletzt geändert am 6.7.2005